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BILLY GRAHAM IM VELODROME D'HIVER

■ Der französische Semiologe Roland Barthes über den Auftritt des Evangelisators in Paris Mitte der fünfziger Jahre

Viele Missionare haben uns von den religiösen Bräuchen der primitiven Völker berichtet. Es ist sehr bedauerlich, daß kein Zauberer der Papuas im Velodrome d'Hiver (der Pariser „Sportpalast“) anwesend war, um uns seinerseits von der Zeremonie zu erzählen, die Dr. Graham dort geleitet hat und die sich Evangelisationskampagne nennt. Dabei gibt es dort doch ein schönes anthropologisches Material, das im übrigen von den Kulten der „Wilden“ geerbt worden zu sein scheint, da man darin auf eine unmittelbar ansichtige Weise die drei großen Phasen jedes religiösen Aktes wiederfindet: Erwartung, Suggestion, Initiation.

Billy Graham läßt auf sich warten: Gesänge, Anrufungen, hundert nutzlose kleine Ansprachen von Nebenpastoren oder amerikanischen Impressarios (joviale Vorstellung der Truppe: der Pianist Smith aus Toronto, der Solist Beverley aus Chicago, Illinois, „der Künstler vom amerikanischen Rundfunk, der das Evangelium auf eine wunderbare Weise singt“), ein ganzes Reklameprogramm geht Dr. Graham voraus, der immer wieder angekündigt wird und der nicht erscheint. Dann kommt er endlich, aber nur um die Neugier noch zu steigern, denn seine Rede ist noch nicht die richtige, er bereitet lediglich das Kommen der Botschaft vor. Und andere Intermezzi verlängern noch das Warten, heizen den Saal ein, geben im voraus dieser Botschaft eine prophetische Bedeutung, die nach den besten Schauspiel-Traditionen damit anfängt, sich begehren zu lassen, um schließlich desto leichter zu bestehen.

Man erkennt in dieser ersten Phase der Zeremonie die große soziologische Bewegkraft der Erwartung, die Mauss untersucht hat und von der wir in Paris ein ganz modernes Beispiel in den hypnotischen Sitzungen von Grand Robert kennengelernt haben. Auch da schob man das Erscheinen des großen Zauberers so lange wie möglich hinaus, und durch wiederholte Finten erzeugte man im Publikum die wirre Neugier, die ganz und gar bereit ist, das wirklich zu sehen, worauf man es warten läßt. Hier wird Billy Graham vom ersten Augenblick an wie ein wirklicher Prophet dargestellt, in den gerade an diesem Abend hinabzusteigen man den Geist Gottes anfleht. Ein Inspirierter wird sprechen, und das Publikum ist aufgefordert, am Schauspiel einer Besessenheit teilzunehmen; man bittet es im voraus, die Rede Billy Grahams unmittelbar für göttliche Worte zu nehmen.

Wenn Gott wirklich durch den Mund Dr. Grahams spricht, muß man zugeben, daß Gott allerdings recht dümmlich ist. Die Botschaft verblüfft durch ihre Plattheit und ihren Infantilismus. Jedenfalls ist Gott offensichtlich nicht mehr Thomist, Logik widerstrebt ihm außerordentlich. Die Botschaft besteht aus Salven diskontinuierlicher Versicherungen, die alle keinen anderen Inhalt als einen tautologischen haben („Gott ist Gott“). Der geringste Maristenbruder, der akademischste Pastor wirken wie dekadente Intellektuelle neben Dr. Graham. Irregeführt vom hugenottischen Dekor der Zeremonie (Gesänge, Gebete, Predigt, Segen), eingeschläfert durch die erbauliche Zerknirschung, die dem protestantischen Gottesdienst eigen ist, haben Journalisten Dr.Graham und seine Mannschaft wegen ihrer Zurückhaltung gelobt. Man hatte einen übertriebenen Amerikanismus mit Girls, Jazz, joviale und modernistische Metaphern (es gab immerhin ein paar) erwartet. Billy Graham hat sicher seine Vorstellung von allem Malerischen gereinigt, und die französischen Protestanten haben ihn akzeptieren können. Das ändert nichts daran, daß Grahams Auftreten mit der Tradition der katholischen oder protestantischen Predigt bricht, die ein Erbe der antiken Kultur ist und die in der Forderung nach Überredung besteht. Das abendländische Christentum hat sich in seiner Darlegung immer den allgemeinen Regeln des aristotelischen Denkens unterworfen, es hat sich immer bereitgefunden, mit der Vernunft zu verhandeln, wenn es darum ging, dem Glauben Kredit zu verschaffen. Mit Jahrhunderten des Humanismus brechend (selbst wenn dessen Formen hohl und erstarrt sein mochten, die Mühe um den subjektiv Anderen hat in der christlichen Didaktik selten gefehlt), beschert uns Dr.Graham eine Methode der magischen Umwandlung: an die Stelle der Überredung setzt er die Suggestion. Die Hast des Sprechens, das systematische Vermeiden jedes rationalen Inhalts der Aussage, der ständige Bruch der logischen Verbindungen, die verbalen Wiederholungen, das rhetorische Zeigen auf die Bibel, die in der erhobenen Hand gehalten wird wie der Universalbüchsenöffner eines Jahrmarktverkäufers, und insbesondere der Mangel an Wärme, die offenkundige Verachtung des Anderen, all das gehört zum klassischen Instrumentarium der Hypnose in den Varietes. Ich wiederhole: Es gibt keinerlei Unterschied zwischen Billy Graham und Grand Robert.

Und genauso wie Grand Robert die „Behandlung“ seines Publikums mit einer besonderen Auslese beendete, indem er die Auserwählten der Hypnose bezeichnete, sie auf die Bühne kommen ließ und diesen Privilegierten die Aufgabe übertrug, einen spektakulären Schlafzustand zu demonstrieren, krönt auch Billy Graham seine Botschaft mit einer Segregation der Berufenen. Die Neubekehrten, die an diesem Abend im Vel‘ d'Hiv‘ zwischen der Reklame für Super Dissolution und Cognac Polignac unter dem Einfluß der magischen Botschaft „Christus empfangen haben“, werden in einen besonderen Raum geleitet oder, falls sie englischsprachig sind, zu einer noch geheimeren Krypta. Ganz gleich, was dort geschieht, Eintragung in die Liste der Konvertierten, neue Predigten, geistliche Unterhaltungen mit den „Beratern“ oder Sammlungen, diese neue Episode ist der formale Ersatz für die Initiation.

All das betrifft uns auf unmittelbare Weise. Zunächst einmal beweist Billy Grahams Erfolg die geistige Gebrechlichkeit des französischen Kleinbürgertums, denn aus diesem rekrutiert sich anscheinend zum größten Teil sein Publikum. Die Empfänglichkeit dieses Publikums für alogische und hypnotische Formen des Denkens läßt vermuten, daß in dieser Schicht der Gesellschaft eine Abenteuersituation herrscht. Ein Teil des französischen Kleinbürgertums ist nicht einmal mehr durch seinen berühmten „gesunden Menschenverstand“ geschützt, der die aggressive Form seines Klassenbewußtseins darstellt. Aber das ist noch nicht alles: Billy Graham und seine Mannschaft haben eindringlich und zu wiederholten Malen das Ziel dieser Kampagne hervorgehoben: Frankreich „aufzuwecken“. („Wir haben Gott große Dinge in Amerika vollbringen sehen; ein Erwachen in Paris hätte ungeheuren Einfluß auf die gesamte Welt.“ - „Unser Wunsch ist, daß in Paris etwas geschieht, das Auswirkungen auf die gesamte Welt haben würde.“) Ganz offensichtlich ist die Optik dieselbe wie die Eisenhowers in seinen Erklärungen über den Atheismus der Franzosen. Frankreich ist in den Augen der Welt charakterisiert durch seinen Rationalismus, seine Gleichgültigkeit gegenüber dem Glauben, die Irreligiosität seiner Intellektuellen (ein Amerika und dem Vatikan gemeinsames - im übrigen überschätztes - Thema). Aus diesem schlechten Traum muß Frankreich aufgeweckt werden. Die „Konversion“ von Paris hätte in der Tat den Wert eines überwältigenden Exempels. Der Atheismus, von der Religion in seiner eigenen Höhle besiegt!

Es handelt sich also in Wirklichkeit um ein politisches Thema. Frankreichs Atheismus interessiert Amerika nur, weil es ihn für das vorläufige Gesicht des Kommunismus hält. Frankreich aus dem Atheismus aufwecken heißt, es aus der Faszination durch den Kommunismus aufwecken. Billy Grahams Kampagne war nur eine McCarthy-Episode.

Der Text ist dem 1964 bei Suhrkamp erschienenen Band „Mythen des Alltags“ entnommen, der verschiedene zwischen 1954 und 1956 entstandene Texte von Roland Barthes in der Übersetzung von Helmut Scheffel versammelt.

Heute um 14.30 Uhr spricht Billy Graham vor dem Reichstag.

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