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BRÜDER-BILD MIT BUCH: „MEHR ALS DAS LIEFERBARE VERKAUFT“

■ Das erste Ost-West-Joint-venture im Sektor Buchvertrieb stellt sich auf der Leipziger Buchmesse vor

Seit Jahren zählten die Parties von Ralf Rakowsky am Rande der Leipziger Frühjahrsmesse zum „must“ für BRD-Verleger und DDR-Buchhändler. Der junge Dresdner Buchvertreter, der selbst das Territorium der DDR in westlicher Richtung verlassen durfte, brachte mit lauwarmem Rotkäppchen-Sekt und echten Protestliedermachern in privaten Räumlichkeiten hüben zu drüben und drüben zu hüben.

In diesem Jahr nun drohte die Party zu platzen: die Rakowsky zur Seite stehende gastgebende Schauspielerin hatte auf einer Auslandsreise den Fuß in die 6. Etage des KaDeWes gesetzt. Anschließend stellten sich Symptome einer gewissen Depersonalisierung ein, die ihr einen längeren Aufenthalt in New York haben zwingend erscheinen lassen müssen. Seitdem gilt sie - eines der ersten Wiedervereinigungsopfer - als verschollen.

Daß die Party trotzdem auch in diesem Jahr wieder steigen wird, verdankt sich deutsch-deutscher Unternehmerinitiative: Ralf Rakowsky und sein befreundeter Kollege Jürgen Fiedler haben sich mit fünf renommierten BRD-Verlagen zusammengetan, eine Kirche in der Leipziger Innenstadt gemietet und empfangen dort seit Sonntag die deutsch-deutsche Buchfachwelt.

Die Idee zu einer grundlegenden Zusammenarbeit hatte sich vorher schon in den Köpfen von Ralf Rakowsky und Jürgen Fiedler festgesetzt. Sie heißt - und das war eines der ersten großdeutschen Neudeutschwörter nach dem GAU (größter anzunehmender Umfall) - Joint-venture: gemeinsames Risiko.

Der eine Ideenträger war zu der Zeit noch Vertreter für den Verlag der Kunst, Dresden; der andere reiste für den Seemann -Verlag, Leipzig. Während Fiedler auf Umwegen dahin gefunden hatte - er war es eines Tages leid gewesen, die Planungsmißstände der Deutschen Reichsbahn, Abteilung Gleisbau, als Ingenieur mit auszuhalten -, hatte Rakowsky schon immer das Bücherverteilen betrieben. Und das auch auf recht DDR-unkonventionelle Art. Er hatte nämlich zum Beispiel die Tradition jener Leipziger Feten begründet: Jedes Jahr zur Buchmessenzeit trafen sich alle möglichen Buchzentrierten jeweils privat-formell zu grenzüberschreitendem Redefluß. Und der war unschätzbar, da fast die einzige Möglichkeit für beide Seiten, etwas voneinander zu erfahren.

Der Unternehmerpaar Fiedler-Rakowsky steht für logistische Machbarkeit und interaktive Realisation. Fiedler wollte nach dem November ursprünglich ein Buchvertriebssystem für die DDR aufbauen und besuchte, zwecks Informationsabkupferung, Libri in Hamburg. Rakowsky dagegen hatte an einen eigenen Verlag gedacht, erkannte aber rechtzeitig, daß man sich den nicht leisten können muß. Also besannen sich beide auf ihre Qualitäten als Verlagsrepräsentanten. Die Idee bekam Füße.

Beide schrieben nun Briefe an zwei Dutzend westdeutsche Verlage. Sie wollten, erklärten sie, als Kenner des DDR -Buchmarktes, dortselbst die Vertretung für BRD-Verlage übernehmen. Die Antwortschreiben überschlugen sich, trotz behinderter deutsch-deutscher Postwege. „Sehr geehrter Herr Rakowsky, sehr geehrter Herr Fiedler ... mit Interesse ... würde mich jederzeit über Ihren Besuch... Wenn es Ihre sicherlich angespannte Terminsituation nicht erlaubt, könnten wir uns auch kurzfristig in Berlin treffen...“ usw. usf. Diese Briefe wiederum legten sie befreundeten Anlagesuchern aus West-Berlin vor, die ihrerseits umgehend bereit waren, mit F+R am absehbaren Geldfluß teilzunehmen.

In Anbetracht der Verhältnisse auf dem DDR-Buchmarkt hatten Rakowsky und Fiedler zu dem Zeitpunkt sämtliche Trümpfe in der Hand: Der Westen riß sich darum, mit ihnen ins Geschäft zu kommen. Denn mit dem Bruder-Buchmarkt verhielt es sich seit rund 40 Jahren wie folgt: Es gibt rund 80 Verlage, und die unterstanden bislang staatlicher Planung und Kontrolle. In der Praxis bedeutete dies unter anderem, daß jeder Verlag von dem jährlichen Titel-Plansoll von 6.500 Büchern etwa 100 Stück produzieren mußte. (Die BRD-Zahlen im Vergleich lauten übrigens: 51.000 Titel jährlich in Erstauflage, 18.000 im Nachdruck.)

Neben dieser ersten festen Größe gab es eine zweite in Form des jedem Verlag zugeteilten Papierkontingents. Im Resultat hieß das: relativ viele Titel und sehr wenig Papier. Da außerdem nicht der Markt, sondern der Plan die Produktivität regelte, ergab sich die absurde Gleichzeitigkeit von Mangel und Überfluß. Es gab also zu viele von den Büchern, die keiner wollte, und zu wenig von denen, die alle wollten.

Vertrieben wurden sämtliche Bücher durch eine Monopolorganisation, den „Leipziger Kommissions- und Großbuchhandel“ (LKG); und zwar nach einem Verteiler- bzw. Kürzungsschlüssel. Zuerst kamen die 772 staatseigenen „Volksbuchhandlungen“ dran, dann die 60 Kommissionsbuchhandlungen, und was übrigblieb, wenn etwas übrigblieb, kriegten die christlichen und die privaten Buchhandlungen. Ein Kommissionär war dabei jemand, der eine eigene Buchhandlung besaß, aber „Volksbücher“ vertreiben mußte, um dann nur 15 statt der staatsüblichen 30 Prozent an ihnen zu verdienen.

Daran reich zu werden, dürfte ihm schwergefallen sein. Denn einesteils war für ihn der „Staatsfake“, wie Rakowsky die Leipzifger Buchmesse nennt, die einzige Gelegenheit, die neuen Titel des Jahres zu erfahren; allerdings konnten er und seine privaten oder christlichen Kollegen-Genossen keine angemessenen Vorbestellungen machen, da sie keinen Begriff von den Büchern hatten. Dafür bekamen sie wöchentliche Pappkarten vom Verlagsdienst des Leipziger Börsenvereins mit Neuvorstellungen ins Haus. Die konnten die Buchhändler dann ankreuzen, Zahlen einsetzen und an die LKG schicken. Nur war es da für eine Auflagendirigierung natürlich längst zu spät: Das alte Dresden von Löffler zum Beispiel, erzählt Rakowsky, hätte glatt eine halbe Million Mal verkauft werden können, nur daß das beim Druck leider keiner wußte, so daß am Schluß ein Laden, wenn er Glück hatte, gerade mal zwei Exemplare ergattern konnte.

Andererseits waren die Buchhandlungen verstopft mit ideologischer Produktion: Jeder Staatsladen hatte ein Zwangskontingent an Parteiliteratur vom Dietz-Verlag abzunehmen. Die wurde also nach Plänen zugeteilt und an die Kreisparteileitungen verkauft, die sie wiederum „ungelesen dem örtlichen Altstoffhandel zuführten“ (Fiedler). Der Dietz -Verlag machte nämlich Meldung nach oben, wenn seine Produkte nicht reichlich weggingen. Ohnehin saßen in der Leitung des Volksbuchhandels, jener „repressiven Zentralisierungsabteilung“ (Rakowsky), Parteifunktionäre. Da der Zentrale selbstverständlich eine wichtige Rolle bei der geistigen Aufrüstung des Volkes zukam, war diese Organisation mit Vertretern der Staatssicherheit besetzt. So war also die Stasi gleich selber bei der Einstellung neuer Mitarbeiter beteiligt.

In solch einem genauso simplen wie undurchschaubaren Leitungssystem von gleichzeitig Selbstfluß und zentraler Stockung bedurfte es eigentlich keiner Störungshelfer. So gab es auch für die 80 Verlage nur rund 50 Handelsreisende in Sachen Buch in der gesamten DDR. Die bezogen ein Gehalt von 1.150 Mark brutto (850 Mark netto) und durften darüber hinaus gesetzlich erlaubte 200 Mark Provision machen. Wurde ein höherer Umsatz gemacht, kam der Überhang auf ein Guthabenkonto, das im Krankheitsfall verrechnet wurde. Bestand zum Ende dieses Jahres noch ein Übersoll, wurde das kurzerhand zum neuen Geschäftsjahr getilgt. Im Oktober '89 wurde übrigens die maximale Provision auf 520 Mark erhöht.

Es war üblich, daß ein neu eingestellter Vertreter mit einem Provisionssatz von 1,6 Prozent begann, nach seiner Einarbeitungszeit auf rund 0,8 Prozent runtergestuft wurde und in der Folge 0,3 bis 0,4 Prozent erhielt. Mithin ein sozialistisch ausgeklügeltes System zur Relativierung der Unzufriedenheit.

Ihre Kundenbesuche absolvierten die Vertreter mit dem Zug, dem Bus oder, wenn vorhanden, mit dem eigenen PKW. Letzteres allerdings nur dann, wenn der Verlag wendig genug war, die staatliche Spritkontingentierung zu unterlaufen. Ein Dekret aus der Ölkrisenära Anfang der siebziger Jahre gestand nur Vertretern staatstragender Verlage die Benutzung eines Autos zu. Kunstbuchverlage fielen selbstverständlich nicht in diese Kategorie.

Darüber hinaus sahen die „Rahmenkollektivverträge“ (RKV) des Verlagswesens für Vertreter eine Spesenpauschale von täglich maximal sieben Mark vor. Vorausgesetzt, man konnte sie ausgeben: In den abgelegeneren Provinzen gab es für den Handlungsreisenden nicht einmal Hotelbetten: man übernachtete bei den Buchhändlern.

Das war also die Lage, als sich die beiden Joint-venturer zum Handeln entschlossen. Ganz so amerikanisch, wie das Wort vermuten läßt, gingen sie nicht vor. Zwar gründeten Rakowsky und Fiedler zunächst ihr autarkes DDR-Unternehmen, zeigten sich dann aber für westliche Geldmacherhirne unbegreiflich verhalten: Weder suchten sie sich die - unter finanziellen Aspekten - westdeutschen Rosinenverlage zur Kooperation heraus noch gaben sie dem heftigen Werben großer Konzerne nach. Denn auch diese standen sofort auf ihrer Matte. Beide Jungmanager waren zwar, wie sie zugeben, hingerissen von deren effizienter Geschäftspolitik, verfielen ihr aber nicht. „Finanziell“, sagt Rakowsky, „hätte es da sehr viel mehr Möglichkeiten gegeben, als es derzeit der Fall ist. Aber“ - und noch unterscheiden sie sich darin von ihren kapitalistischen Konkurrenten - „aber meine Kindheit habe ich nicht mit Gold- oder Bertelsmann zugebracht, sondern mit Suhrkamp oder mit den Verlagen, mit denen wir jetzt auch zusammenarbeiten. Bis ich nach München kam, wußte ich zum Beispiel gar nicht, daß es Blanvalet gibt.“

Ihre Entscheidung für „diskurs“ - so haben sie ihr Unternehmen, durchaus mit dem Riecher für richtige Trends, getauft - war denn auch in gewisser Weise ängstlich: Sie scheuten den Druck eines Großen Bruders - „wenn du den Erwartungen nicht entsprichst, wirst du fallengelassen wie eine heiße Kartoffel“. Aber sie war durch und durch redlich. Herzenssache und Geschäft sollten sich nicht ausschließen: Und so nahmen sie Partei für den Inhalt Buch und gegen die Ware Buch. In wunderschönster Ideologienharmonisierung beschreiben sie ihre zukünftige Arbeit als „Schaffung von Wortwerten“ und meinen das auch so. Außerdem sind sie davon überzeugt, daß „Literatur in der BRD in den mittelständischen Verlagen entwickelt“ wird.

In ihrer Partnersuche gebärdeten sie sich dann geradezu nibelungentreu. Rakowsky hatte auf einer Geburtstagsfete in Köln - da durfte er schon auf West-Verlagskosten reisen die Leipziger Bekanntschaft mit einem Entscheidungsträger von DuMont aufgefrischt und fand, ob das naiv war, bleibe dahingestellt, den Umgang des Verlags mit seinem Vertrieb so „nett und anständig“. DuMont sollte es also an erster Stelle sein; dazu kamen dann noch dtv, Hanser, Kiepenheuer&Witsch und die BLV-Verlagsgesellschaft (ein Freizeitgestaltungsverlag). Mit denen wollte man das Abenteuer eingehen. Ein Handschlag in Köln besiegelte den Entschluß. Es konnte losgehen.

Das heißt, erst mal hängte Rakowsky ein Schild an seine Ostberliner Wohnungstür „diskurs - Buchvertrieb&Werbung GmbH“. Das war doch schon mal etwas, handgreiflich und handgemalt. Einiges andere gestaltete sich dann schon etwas umwegiger.

Natürlich ist die Verhinderungsbürokratie der DDR grausig; vielleicht nicht ganz so rigide mehr wie in den 40 vorangegangenen Jahren, dafür um so unvorhersehbarer. Natürlich müssen sie von formal Zuständigen über womögliche Zuständige zu ganz und gar Unzuständigen, aber außerplanmäßig Berechtigten sich vorstehen. Aber das kennen sie, und das schreckt sie nicht. „Es ist ja nicht nur so“, sagt Rakowsky, „daß die alle unfähig wären. Manche sind auch sehr nett. Aber sie können nicht. Sie wissen nicht, was sie mit dem neuen gesetzlichen Freiraum machen sollen. Früher hat die Sektion Kultur keine Gewerberäume beantragt. Das brauchte die nie. Wozu auch? Es gab ja weder die Möglichkeit, eine Galerie zu eröffnen noch eine Buchhandlung aus dem Boden zu stampfen. Und plötzlich sehen die sich konfrontiert mit über 600 Gewerbeanträgen.“ Irgendwann führte das bei einer verwirrten Kulturministeriumsfunktionärin zu dem kuriosen Satz: „Ich kann Ihnen das ja nicht verbieten!“

Während in der DDR zur Zeit insgesamt angeblich 100.000 Anträge auf eine Gewerbeerlaubnis vorliegen, haben Fiedler und Rakowsky diese für ihren diskurs (noch ohne GmbH) seit Anfang Februar in der Tasche. Während andere Unternehmen sich noch mit der wechselseitigen Ausschließung: keine Gewerbeerlaubnis - keine Zuweisung von Gewerberäumen; keine Gewerberäume - keine Erlaubnis herumschlagen, haben die beiden diese Kreisquadratur bereits gelöst. Gleichzeitig mit der Gewerbeerlaubnis erhielten sie ihre Räume. Rakowsky fuhr einige Tage lang mit seinem Fahrrad vom Rat der Stadt zum Magistrat und von dort zum Ministerium für Kultur, woraufhin er wieder an den Magistrat verwiesen wurde, wo man ihn Gehen Sie zurück auf Los! - wieder zum Ausgangspunkt schickte. Dessen Sachbearbeiter sagte dann, nachdem Rakowsky in sieben Stunden drei geforderte, aber unsinnige Papiere erredet und erradelt hatte: „Der Mann ist fleißig, dem geben wir die Stempel.“

Bedrohlicher schon weht der Wind aus Westen. Da hat einerseits Bertelsmann, ehe man sich's versieht, mal schnell in einer Testwoche 20.000 Leseringmitglieder geworben; und auf der anderen Seite sind Buchladenketten und „Ramscher“ so ein häßliches Wort möchten sie kaum in den Mund nehmen längst aus den Startlöchern geschossen, um 40 Jahre lang frustrierte und ahnungslose Buchhändler zu überwältigen. Die LKG hat inzwischen mit Koch, Neff&Oettinger, dem größten BRD -Sortimenter, ein Joint-venture beschlossen. Und Pawlak, das größte moderne Antiquariatsunternehmen, hat dem Volksbuchhandel jüngst Ware für angeblich 1,4 Millionen Mark verkauft.

Aber weder das noch die Schreckvision von einer DDR, die in Bertelsmann- und Montanus-Claims aufgeteilt ist, läßt Fiedler und Rakowsky irre werden. Beide kennen, bei aller Unschuld ihres Vorgehens, durchaus ihre Pluspunkte, und, vor allem: Sie wissen, was sie wollen und können. „In einer derart unübersichtlichen Zeit ist guter Rat gefragt.“ Sie haben sich gegen das, wie sie es nennen, „Staubsauger -Modell“, entschieden und erliegen doch nicht der Panik des Entweder-Oder. Fiedler, der Nüchterne, erklärt ihre Herzensangelegenheit: Alle die werden natürlich Erfolg haben. Wenn sie ihre Produkte bedarfsgerecht herstellen, finden sie immer ihre Abnehmer. Nur ist es ein anderes Verkaufen, als wenn man ein Buch hat, von dem man meint, es muß verkauft werden. Das mag Gefühlsduselei sein, die ist aber für uns ganz wichtig und hängt auch mit unserer Geschichte zusammen: Wir konnten immer nur das Lieferbare verkaufen. Deshalb ist es ein wahnsinniges Gefühl, wenn man jetzt so eine Unzahl von wunderschönen Büchern im Angebot hat.“

Und Rakowsky, der immer schon Gewiefte, zieht einen zweiten Trumpf aus der Tasche: „Derzeit ist es so, daß wir mit diskurs eine größere Wirkung in der DDR haben als beispielsweise Bertelsmann. Das mag absurd klingen. Aber wir kennen halt die Buchhändler.“

Beide können die Vorstellung aushalten, daß in ihrem Land demnächst für viele Platz sein wird, weil unterschiedlichste Geschmäcker bedient sein wollen. Und: Haben sie etwas unternommen, um sich und also auch die Buchhändler vor den Buchfabriken und Buchsupermärkten zu schützen? „Was wir machen können, ist, das Angebot unserer Verlage herumschicken - das haben wir schon gemacht - und die Buchhändler mit der Nase draufstoßen, daß es noch etwas anderes gibt. Daß sie sich auf keinen Fall auf etwas einlassen sollen, ohne sich noch 15 bis 20 andere Angebote einzuholen. Sie müssen nach 40 Jahren zu dem Selbstwertgefühl zurückfinden zu sagen: Ich suche mir aus, was ich machen will. Das macht niemand für mich. Ich bin derjenige, der das zu entscheiden hat. Wenn dieses Bewußtsein erst einmal bei den Buchhändlern vorhanden ist, werden sie verstehen, daß all die schönen West-Angebote Quark sind. Regale und eine Kasse wollen sie den Buchhändlern umsonst hinstellen. Als wenn der Kapitalismus etwas zu verschenken hätte.“

Daß auch sie selber fast wie berauscht sind durch ihr eigenes Aufbruchsfieber in diesen beinahe frühkapitalistisch -anarchischen Goldgräberzeiten, wollen sie nicht leugnen. Und dann gesteht Rakowsky, er möchte das fast nicht protokolliert haben, daß er sich früher „eigentlich wohler gefühlt“ hat, als er noch „Zeit hatte“. Beide können „kaum Schritt halten mit der rasenden Geschwindigkeit, in der das“ - und dabei nickt er dem Sony-Fernseher zu - „hier alles passiert“.

So versuchen sie also, schnell und langsam zugleich zu sein. Der Umbau und die Renovierung der Geschäftsräume in der Rykestraße 17, gleich um die Ecke zur Husemannstraße, dem schnieke herausgeputzten Vorzeigemuseum am Prenzlauer Berg, fanden zum Beispiel in der DDR-Rekordzeit von 14 Tagen statt. Selbst der Teppichboden ist schon verlegt, jedoch stehen die Räume noch leer. Demnächst - wir zucken zusammen

-„sollen Gitter vor die Fenster“. Die Büroräume liegen im Erdgeschoß des Hinterhofs, und „schließlich haben wir dort demnächst einen Computer, einen Fotokopierer und anderes technisches Gerät stehen“, erklärt Rakowsky, während wir aus der mittäglichen Hinterhofdunkelheit auf eine unverputzte Brandmauer blicken.

Daß ein Mitglied der Geschäftsleitung von DuMont nach einer Besichtigung diese Räumlichkeiten für gemäß befand, läßt auf eine realistische Einschätzung der DDR-Verhältnisse durch den gediegenen Verlag schließen. Man kann froh sein, daß man zu diesem frühen Zeitpunkt überhaupt etwas hat.

Die diskurs-Teilnehmer dagegen können nicht froh sein: sie sind es! Oder besser, sie strahlten wie Jungs in der Spielzeugabteilung, als sie, nach Absprache mit ihrem Hauptwestpartner, plötzlich im Besitz eines West-Kontos waren und einkaufen gehen durften/mußten. Im Konsumrausch übersahen sie, daß sie sich lediglich graduell von den DDR -Buchhändlern unterscheiden, die der Faszination von Bücherregal-Registrierkassen-Glasperlen erliegen. Von einer Stunde zur nächsten mußten ein Auto, ein Anrufbeantworter, ein Fotokopierer und ein Telefax gekauft werden. Was wiederum einem Westberliner Freund der beiden zu einem regelrechten Dagobert-Duck-Dollar-Daddy-Auftreten verhalf. Der setzte sich ans Telefon, fand, zwei Autos fürs selbe Geld seien praktischer, und beendete jeden Anruf mit: Gut, das nehmen wir.

Denn um den Vorsprung gegenüber finanzkräftigen Verlagsgruppen nicht zu verlieren, mußte das diskurs -Geschäft schon vor seiner Ikea-Möblierung und Fenster -Vergitterung anlaufen. Rakowskys Wohnung liegt eine Querstraße weiter. In seiner Küche arbeitet der neue Zweitonkopierer umzugsbereit auf Hochtouren. Eine erste Vorstellung des Unternehmens nebst Prospektmaterial der BRD -Verlage geht an 772 Buchhandlungen der DDR: „Wir sind immer und in allen Fragen für Sie da“. Der Rücklauf nach wenigen Tagen ist beeindruckend: “... würde mich freuen, wenn wir die durch die veränderten Verhältnisse aufgeworfenen Fragen demnächst persönlich...“

Zur Rückkoppelung der Resonanz und Entwicklung weiterer Strategien müssen Rakowsky und Fiedler fast jeden Tag nach West-Berlin fahren. Dort steht ihr Telefon, das sie in Ost -Berlin nicht besitzen. Und selbst wenn sie es hätten Anträge haben sie schon stapelweise losgeschickt -, müßten sie eine Telefondame (warum keinen herrn? sezza) extra dafür anstellen, daß sie die Wahlwiederholungstaste gegen den Vorwahlbesetzton durchdrückt. Der neugelegte diskurs -Telefonanschluß steht also in der Wohnung einer Westberliner Freundin, ebenso der Anrufbeantworter und das Telefax-Gerät. Alle drei Kommunikationshelfer sind unabdingbar für ein Vorhaben wie ihres, aber noch gänzlich unnütz in den Ost-diskurs-Räumen.

So hetzten sie denn - Fiedler im bruchreifen Trabant, Rakowsky auf seinem unschlagbaren Fahrrad - zwischen Ost und West 16 Stunden am Tag und 30 Tage im Monat hin und her. Schließlich gilt es, neben oder mit der Etablierung des diskurs-Unternehmens, die Leipziger Frühjahrsmesse vorzubereiten. Der private Messepartyrahmen von Rakowsky wird im diskurs-Zusammenhang etwas erweitert. In der kurzerhand gemieteten Kirche in der Nähe der Ausstellungshallen finden in diesen Tagen Geschäftsbesprechungen statt, was auch im Frankfurt-Westen dazugehört: Meine Liebe, mein Lieber, wie schön, daß ihr..., wird Rakowsky dann im angenehmen Privatplauderton und würdigem Ambiente seine buchzentrierten Gäste empfangen.

Und sie haben bei den Messevorbereitungen, erzählt Fiedler, mit denselben Leuten zu tun gehabt, die „in den letzten Jahren über die Messe gelaufen sind und registriert haben. Da kamen am Voreröffnungstag Hager und Konsorten, und die Verlage mußten einen Diener machen und ihre Messestände abnehmen lassen. Jetzt plötzlich sind sie es, die einen noch bis zum Fahrstuhl begleiten und einen Diener machen; dieselben Leute, die einen früher gar nicht wahrgenommen haben.“

„Wenn man nie konnte, wie man wollte, dann ist das jetzt eine Droge, die Arbeit“, sagt er uns. Der Arbeitsaufwand für ihr vereintes Abenteuer wird Fiedler und Rakowsky derzeit von den West-Partnern honoriert. Ihr Stundenverdienst dürfte dabei deutlich unter dem des Reinigungspersonals eines BRD -Verlages liegen.

Nach Beendigung der Leipziger Messe und Einrichtung des vorläufig endgültigen diskurs-Büros wird dann gereist. Dem DDR-Buchhandel werden die DDR-Produkte des Seemann- und Verlags der Kunst zum Kauf angeboten. Die Bücher des West -Verlagspartners sollen erst nach der anstehenden Klärung der Währungs- und Gewinntransferfragen über den Ladentisch gehen. Bis dahin wird Profil gemacht und werden Prospekte verteilt.

Die Honorierung dieses Aufwands buchen die West-Verlage als Markterschließungskosten ab. Und sind dabei bestens bedient. Denn die Vorteile einer Präsentation durch diskurs liegen auf der Hand: Für diskurs arbeiten nahezu 20 Prozent der derzeitigen DDR-Buchvertreter; aufgrund der systematisch angespannten Versorgungslage ist der Kontakt zwischen Buchhändlern und Vertretern in der DDR traditionell sehr viel enger und persönlicher als in der BRD. Und, nicht zu vergessen, perspektivisch ist die DDR-Connection für westdeutsche Verlage auch wegen der Jahrzehnte bewährten Geschäfte mit den nun nicht mehr „sozialistischen Bruderländern“ wichtig: bis zu 25 Prozent der bisherigen DDR -Buchproduktion wurde verrubelt.

Nicht daß Fiedler und Rakowsky allein ihren West-Partnern das Tor zur buchstabenlosen Wüste des Ostens aufstoßen würden. Schließlich ließ zum Beispiel der DuMont-Verlag schon vor der „Revolution“ im letzten Jahr für zwei Millionen DM Bücher in der DDR drucken. Eher schon sind sie ein kleiner Edelbaustein im logistischen Gebilde „Einführung -der-sozialen-Marktwirtschaft“.

Sie selbst sind sich der überfallartigen plötzlichen Möglichkeit „unternehmerischer Freiheit“ nach jener langen Zeit der Bevormundung nur diffus bewußt. „Die Arbeit jetzt ist ein absoluter Reiz nach dieser jahrelangen Entmündigung. Früher habe ich versucht, persönliche Probleme mit meinen pseudobelletristischen Schriften zu lösen; ansonsten aber bin ich immer unter der tätschelnden Hand von irgend so einem Idioten zugange gewesen“, gesteht Ralf Rakowsky. Und Jürgen Fiedler erklärt uns mit ebendiesem noch nicht ganz Mündigsein noch einmal ihren Entschluß, den wir so schwer begreiflich finden: Sie wollen eben nicht ein DDR-autarkes Unternehmen wagen. „Wenn man jahrelang mit Leuten zu tun hatte, die die Hand über einen gelegt haben wie Mutti und Vati, da kann man machen, was man will, das geht nicht von einem Tag auf den anderen raus. Da ist es wichtig, daß man Freunde besitzt, bei denen man das Gefühl hat, sie stehen auch dahinter. Ich brauche das halt noch.“

Und mit den Freunden sind tatsächlich die zukünftigen GmbH -Partner gemeint. Deshalb wollen beide gar nichts wissen von unserer Unterstellung, daß da ein paar westliche Großunternehmen höchst bequem und höchst billig zu begeisterten armen Verwandten gekommen sind. Und sie lehnen es kategorisch ab, sich als zwei der tausendfachen Kleinen Brüder zu begreifen, die von ihren Großen Brüdern grandios über den Tisch gezogen werden. Das sehen sie anders.

Und wir müssen ihnen glauben, daß es wahrhaftig nicht in erster Linie das Geld ist, was sie lockt. Eine beneidenswerte Einstellung zum Geschäft - des Lebens.

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