: Der Choleriker und der Sanfte-betr.: "CDU-Streit mit Polen um Entschädigungen", Tagesthema: "Die Verbitterung über Kohl wächst", taz vom 5.3.90
betr.: „CDU-Streit mit Polen um Entschädigungen“, Tagesthema: „Die Verbitterung über Kohl wächst“, u.a., taz vom 5.3.90
Nur wer schon wieder glaubt, in Europa das Sagen zu haben, und wie Kohl per Gnade der späten Geburt die historische Schuld Deutschlands verdrängen zu können, kann sich auf ein so schamloses, Polen demütigendes Pokern einlassen.
Gleichzeitig zu diesem „Angebot“ in großdeutscher Tradition schlägt der Innenminister die Angliederung der DDR im Schnellverfahren nach § 23 GG vor. Das ist die andere Seite der gleichen Medaille. Jede Sensibilität für die Situation wird mit dem Effizienz-Argument beiseite gewischt. Statt den Prozeß der deutschen Neugestaltung mit dem des Zusammenwachsens in Europas zu verbinden und ihm durch eine weit ausgreifende Verfassungsdiskussion Ausdruck zu geben, sollen lediglich die Instabilitäten des Übergangs minimiert und die Handlungsfähigkeit des größeren Deutschlands so schnell wie möglich hergestellt werden. Das erinnert sehr an die unselige Reichsgründung von oben des Jahres 1871.
Heute müßten wir dagegen vielmehr durch die sensible Gestaltung unserer zukünftigen Strukturen, unseren europäischen Nachbarn (Und bitte, bitte auch den Nachbarinnen. d.sin) zu zeigen versuchen, daß wir uns von allen Führungsansprüchen verabschiedet haben, und daß wir unsere ökonomische Machtfülle nicht mißbrauchen werden. Dazu ist die noch offene zukünftige Verfaßtheit der deutschen Gesellschaft als Chance für Korrekturen und Neuanfänge zu begreifen. Informatik, Ökologie, Gentechnologie und so weiter werfen so viele neue Fragen auf. Soziale Bewegungen und Bürgerinitiativen haben der Demokratisierung unserer Gesellschaft neue Impulse gegeben, für die geeignete Formen der direkten Entscheidung der mündigen BürgerInnen neu zu bedenken sind.
Die offensichtlich erst noch zu erkämpfende Verfassungsdiskussion ist keine Aufgabe für Spezialisten. (Und sicher auch nicht für Spezialistinnen. d.sin)Sie muß zu einem Gespräch der ganzen Gesellschaft mit sich selbst über ihre Bedürfnisse und Orientierungen werden. Eine solche gesellschaftliche Selbstverständigung braucht Zeit, wenn sie zu sozialen Lernschritten in Richtung eines anderen Europas führen soll. Die Voraussetzung hierfür ist allerdings, daß die Bundesregierung endlich weitreichende und solidarische Hilfe für die DDR zur Verfügung stellt, damit die DDR-BürgerInnen nicht unter erpresserischen, existentiellen Zustimmungszwang geraten.
Andreas Buro, Sprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie, Bonn-Beuel
Der Fan-Gemeinde von US-Krimiserien ist ein elementarer psychologischer Sachverhalt wohlvertraut: Wer einen widerspenstigen Verdächtigen zu einer Aussage bewegen will, benötigt stets zwei Polizisten. Der eine rastet aus, wird handgreiflich und läßt sich schließlich von seinem Kollegen mit sanfter Bestimmtheit aus dem Raum schieben. Durch seine ruhigere Art erwirbt der andere das Vertrauen des eingeschüchterten Verdächtigen. Zeitigt der weiche Verhörstil immer noch keine Erfolge, genügt oft die Drohung, den Choleriker wieder hereinzuholen.
Offensichtlich stehen auch im Auswärtigen Amt und im Kanzleramt Fernseher herum, denn der sogenannte „Koalititionsstreit“ der letzten Wochen über die polnische Westgrenze verläuft genau entlang dieser Strategie. Während Kohl die Reps und die Vertriebenen bedienen soll, ist Genscher der Part des milden Schlichters zugefallen, der sich der Sympathien der progressiven Zeitgenossen und der europäischen Nachbarn zu versichern versteht. (Bloß gut, daß die Zeitgenossinnen und Nachbarinnen, auf diesen Trick nicht reinfallen. d.sin) Seine Wirkung beruht einzig und allein auf dem Kontrast zu den offen reaktionären Positionen, eine prinzipiell andere Politik vertritt er nicht. An eine strukturelle Vermeidung von ökonomisch -politischer Übermacht - zum Beispiel durch den bewußten Verzicht, beide deutschen Staaten zu vereinigen - ist nicht im Traum gedacht. (...)
Die Alternative kann also nicht heißen: „Stahlhelmer“ oder „Genscheristen“, das sind zwei Seiten derselben D-Mark. Sie muß sich daran entscheiden, ob Herrschaft (auch ökonomische) als Prinzip zwischenstaatlicher Beziehungen anerkannt oder abgelehnt wird.
Die Anerkennung der deutschen Schuld an Faschismus, Weltkrieg und Holocaust bedeutet die Anerkennung der polnischen Grenzen. Diese ist also die selbstverständlichste aller außenpolitischen Entscheidungen, eine Schande die subtile Scholastik der Zweideutigkeiten seit über 40 Jahren, woran auch Genscher seinen Anteil hatte. Die Staatsdoktrin der BRD, in der diese Minimalgarantie bereits als Bruch des formalen Völkerrechts erscheint, als eine unter Bedingungen stehende Gnade, muß in allen ihren Formen aufs schärfste abgelehnt werden. (...)
Stefan Krauß, Oberried
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