: Fragmente eines totalitären Diskurses
■ Vom andauernden Stalinismus und den weniger hilf- als entschlußlosen Bemühungen, ihm ein Ende zu machen
Hans Christoph Buch
1 „Der Einbruch historischer Wahrheit in das tagespolitische Lügengewebe hat seit dem 9.November 1989 Erkenntnisse über das Wesen des Marxismus-Leninismus gefördert, die bisher auf offenem Markte nicht zu haben waren.“ Dieser Feststellung des Berliner 'Tagesspiegel‘ (vom 21. Januar 1990) ist nur bedingt zuzustimmen: Solche Einsichten sind nämlich keineswegs neu, aber wer sie vor dem 9.November öffentlich artikulierte, der stieß in beiden deutschen Staaten auf taube Ohren. Vieles, was in der DDR als staatsfeindlich galt, war auch für die westdeutsche Linke tabu. Adjektive wie stalinistisch und totalitär, die derzeit geradezu inflationär gebraucht werden, hatten bis vor kurzem auch bei uns keine Konjunktur; wer solche Adjektive trotzdem benutzte und darauf beharrte, daß sie die Realität des realexistierenden Sozialismus adäquat beschreiben, der wurde von den linksliberalen Medien der Bundesrepublik in die rechte Ecke gestellt. Ich weiß, wovon ich rede, denn ich habe diese Erfahrung am eigenen Leib gemacht. „Gegen das antikommunistische Tremolo des Hans Christoph Buch, Hans Joachim Schädlich, Yaak Karsunke und natürlich Biermann hatte Hermlin, der alte Antifaschist..., mit seinen klugen Worten nur geringe Chancen“, schrieb Hartmut Schulze im 'Spiegel‘ anläßlich der Hamburger PEN-Tagung im Juni 1986. Und als ich zwei Jahre später auf einem europäischen Schriftstellertreffen für das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen in der DDR plädierte, wurde ich in einem Kommentar des SFB als Neonazi entlarvt. Mit dem gleichen Recht hätte die Verfasserin dieses Kommentars György Konrad, Susan Sontag und die Mehrheit der Tagungsteilnehmer als Faschisten hinstellen können, die in einem offenen Brief an Reagan und Gorbatschow die Regelung der deutschen Frage „auf der Basis des Selbstbestimmungsrechts“ forderten: „Es ist an der Zeit“, hieß es in diesem Zusammenhang, „daß die Bewohner des gemeinsamen Hauses Europa frei von einem Zimmer ins andere gehen können; auch das Verlassen des Hauses sollte erlaubt sein.“ Damit wird, ganz nebenbei, die Legende widerlegt, „niemand“ hätte die Öffnung der Grenzen und den Zusammenbruch des ostdeutschen Polizeistaats vorausgesehen oder wenigstens vorbedacht: Für die Realpolitiker mag das zutreffen - für die Schriftsteller nicht.
Umgekehrt haben westliche Intellektuelle, die keine Sympathisanten totalitärer Systeme waren oder sind, oft genug die von diesen verhängten Sprachregelungen und Denkverbote ungeprüft übernommen. So äußerte sich der Präsident des PEN-Zentrums der Bundesrepublik im Juni vorigen Jahres gegenüber der Illustrierten 'Stern‘ (27/89, S. 146):
„Aber China ist weit, sehr weit. 'Uns fehlt ein klares Bild‘, sagt Walter Jens, Rhetorik-Professor in Tübingen, halt entschuldigend. 'Was meinten die Protestierenden wirklich mit Demokratie? Hatten sie tatsächlich ein politisches Programm?‘ Man habe, sagt er, auch deswegen Hemmungen, sich zu engagieren, weil die Fotos aus China auch gewalttätige Studenten zeigten und Demonstranten, die ohne Rücksicht auf Menschenleben, mit Steinen und Stangen, auf Panzer, Fahrzeuge und Soldaten losgingen. 'Es gibt jetzt viele Moralisten, von denen aber sehr wenige Analytiker sind‘, sagt Jens. 'Und die paar Analytiker, die es gibt, verhalten sich nicht immer gleich als Moralisten.'“
Soweit der Moralist Jens. Daß die Charta des internationalen PEN dessen Mitglieder zum Eintreten für Meinungsfreiheit und Menschenwürde verpflichtet, sei nur am Rande vermerkt.
2 Die rituelle Versicherung, daß ihre Herrschaft den Frieden erhalten habe, gehörte ebenso zu den Lebenslügen der SED wie die Behauptung, den Antifaschismus für sich gepachtet zu haben. Damit meine ich nicht die Tatsache, daß auch in der DDR furchtbare Juristen wie der langjährige Generalstaatsanwalt Ernst Melsheimer, Mitglied des NS -Rechtswahrerbundes seit 1936 und Kampfgefährte von Roland Freisler, zu Amt und Würden gelangen konnten, sondern etwas Grundsätzlicheres. Wenn es richtig ist, daß der Stalinismus eine linke Variante des Faschismus darstellt - sofern man ihn überhaupt als links bezeichnen will -, und wenn es stimmt, daß stalinistische Herrschaftsstrukturen auch nach dem Tod Stalins oder dem Rücktritt Erich Honeckers weiterexistieren, dann sind die 109.000 früheren Mitarbeiter der Staatssicherheit und die 2,3 Millionen Mitglieder der ehemaligen SED eine ernstere Gefahr für die junge Demokratie der DDR als 1.800 Neonazis oder Skinheads. Die Aufarbeitung von 45 Jahren Stalinismus hat gerade erst begonnen; und man braucht kein Prophet zu sein, um vorauszusehen, daß diese Trauerarbeit, ähnlich wie die Bewältigung der NS -Vergangenheit, noch jahrzehntelang Schriftsteller und Historiker beschäftigen wird - von der Justiz ganz zu schweigen.
„Man wird versichern: Wir waren ja schon immer dagegen, wir haben das gleich von Anfang an gesagt, und wie diese Redensarten alle heißen, mit denen man sich auf die billigste Art aus der Affäre herauszuwinden versucht. Jede Detailkritik der Niederlage, zum Beispiel nur die Kritik politischer Fehler, ihre von der Gesamtentwicklung isolierte Betrachtung, jedes Hervorkehren technischer Mängel, alle Versuche, nur einzelne Personen der Öffentlichkeit preiszugeben, um nicht das System als Ganzes der Kritik zu überliefern, müssen entlarvt und gebrandmarkt werden als das, was sie sind... Wir stehen vor zertrümmerten deutschen Städten, vor Trümmerstädten des Fühlens und Denkens. Nur im Zeichen der Wahrheit, nur im Geiste eines streitbaren Demokratismus kann unser Volk von seinen Wunden genesen, wobei die moralischen Schäden besonders hervorzuheben sind. Deutschland wird freiheitlich und demokratisch sein - oder geschichtliches Niemandsland.“
Ich habe mir die Freiheit genommen, aus einer Rede von Johannes R. Becher zu zitieren, die dieser nach seiner Rückkehr aus dem Exil am 4.Juli 1945 im Berliner Rundfunk gehalten hat. Ist die historische Parallele überhaupt statthaft, mit anderen Worten: ist es erlaubt, Hitler und Stalin miteinander zu vergleichen? Ich meine, es ist nicht bloß erlaubt, es ist sogar höchste Zeit, beide Totalitarismen miteinander zu vergleichen, denn aus solch einem Strukturvergleich, von kompetenten Leuten angestellt, wäre eine Menge zu lernen. Vergleichen heißt nicht gleichsetzen, im Gegenteil, es bedeutet die Herausarbeitung der Differenz, des Trennenden ebenso wie der Gemeinsamkeiten. Ein solcher Vergleich hat nichts mit dem Gegeneinanderaufrechnen von Todesziffern zu tun: Selbst wenn es stimmt, daß Stalin mehr Menschen umbringen ließ als Hitler - er hatte auch mehr Zeit dazu: nicht quantitativ, sondern qualitativ ist der Horror des Holocaust schlimmer als die Greuel des GULAG, und das Grauen von Auschwitz stellt alles in den Schatten, was seitdem, von Hiroshima bis Kambodscha, an historischen Verbrechen geschehen ist.
3 Die parlamentarische Demokratie ist nicht die beste aller möglichen Welten, sondern nur die beste aller schlechten Regierungsformen. Sie ist weder unmittelbar gegeben, noch steht sie ein für allemal fest: Demokratie ist eine unendliche Geschichte, ein permanenter Prozeß, der unabgeschlossen und unabschließbar zugleich ist. Wirkliche Demokratie verhält sich zu Demokratisierung so wie Freiheit zu Befreiung oder Treue zu Betreuung: Das eine ist aktives, selbstbestimmtes Handeln, das andere ein von oben oder von außen oktroyierter, passiver Prozeß, in dem das Subjekt nur noch als Objekt fungiert. Das Scheitern der von den westlichen Siegermächten angeordneten Entnazifizierung ist hierfür das eklatanteste Beispiel. Die von den Justizbehörden verschleppte und boykottierte Aufarbeitung der NS-Verbrechen wurde von der Literatur nachgeholt; was Politiker versäumten, haben Schriftsteller wettgemacht: Ich nenne nur, stellvertretend für vieles, das Auschwitz -Oratorium von Peter Weiss. Den Übergang von der Demokratisierung zur Demokratie vollzog die Bundesrepublik erst, als die von Konrad Adenauer eingeleitete Versöhnung mit Frankreich - und die Wiedergutmachung für Israel - durch die Ostpolitik Willy Brandts ergänzt wurde; und als die Studentenbewegung von 1968 den von den Schriftstellern der Gruppe 47 gesäten Geist der Kritik auf die Straße trug. Trotz ihrer terroristischen Auswüchse hat die studentische Kulturrevolution das Alltagsverhalten der Deutschen in Beruf und Familie nachhaltig und positiv geprägt: Frauen-, Friedens- und Ökologiebwegung haben ihre Denkanstöße weiterentwickelt und innerhalb und außerhalb des Parlaments in praktische Politik umgesetzt.
Die Menschen in der DDR haben es schwerer gehabt: Sie sind durch eine härtere Schule gegangen. Die Lektion des Antifaschismus wurde ihnen von der Sowjetarmee gewaltsam eingebleut. Nach einer kurzen Aufbruchsphase, die durch radikaldemokratische Reformen gekennzeichnet war, wurde jede politische Betätigung monopolisiert von der aus einer Zwangsehe hervorgegangenen SED und den ihr zuarbeitenden Blockparteien und Massenorganisationen. Der steckengebliebene Demokratisierungsprozeß wurde zu Beginn des Kalten Krieges eingefroren. In den folgenden Jahrzehnten rückte der Zeiger der Uhr wie ein Tangotänzer, der zuviel Lenin gelesen hat, zwei Schritte vor und drei Schritte zurück, oder er stand jahrelang still wie nach dem Arbeiteraufstand von 1953 und dem Mauerbau von 1961, der die Risse im ideologischen Fundament mit Beton zu kitten versuchte. Rückblickend war die vierzigjährige Herrschaft der SED, im Gegensatz zu deren Fortschrittspropaganda, gekennzeichnet durch eine extreme Verlangsamung der Zeit, gefolgt von einer ebenso extremen Beschleunigung im Herbst und Winter 1989, als man das in Jahrzehnten Versäumte in wenigen Wochen nachzuholen versuchte.
Die seitdem auf dem Boden der DDR keimende Graswurzeldemokratie ist ein empfindliches Gewächs, das schonender Pflege bedarf; sie wird nicht nur von stalinistischen Betonköpfen bedroht, sondern auch von Politprofis aus der Bundesrepublik, die den ostdeutschen Wildwuchs auf das Modell der westdeutschen Parteienlandschaft zu trimmen versuchen. Dadurch wird die gewachsene Einheit der DDR-Opposition gefährdet und zugleich die Chance verspielt, vom demokratischen Aufbruch in der DDR zu lernen, der nicht aus Klassenkampf oder Parteienstreit hervorgegangen ist, sondern aus einem spontanen Aufstand der Menschen gegen den Apparat: Formen direkter Demokratie, die der Bundesrepublik längst abhanden gekommen sind.
Umgekehrt sind die Äußerungen prominenter DDR-Autoren über den Bonner Staat noch immer von Propagandaklischees geprägt, die aus dem Arsenal der SED stammen und ähnlich grobschlächtig sind wie ihre spiegelbildliche Entsprechung von rechts. Die notwendige Kritik am Kapitalismus läuft dabei Gefahr, umzukippen in antiwestliche - und das heißt unter den Bedingungen des deutschen Sonderwegs immer auch antidemokratische - Ressentiments. Was meint z.B. Volker Braun mit dem „Opportunismus der Freiheit“, den er dem „Opportunismus der Macht“ gegenüberstellt? Vielleicht kann er uns das erklären? Und was meint Heiner Müller mit dem Satz: „Ohne die DDR als basisdemokratische Alternative zu der von der Deutschen Bank unterhaltenen Demokratie der BRD wird Europa eine Filiale der USA sein“ (taz vom 24.1.90)? Mag das Dialektik nennen, wer will: ich finde es nur noch abstrus. Und das vom gleichen Autor geäußerte Verständnis dafür, daß Fidel Castro nichts von Perestroika hält, wird allein schon dadurch widerlegt, daß vor zehn Jahren, als der Hafen von Mariel für eine Woche geöffnet wurde, mehr als 100.000 Kubaner die Insel verließen: In dieser Hinsicht unterscheidet sich der tropische Stalinismus nicht von dem der DDR. Auch was mit dem von Christa Wolf und anderen ständig beschworenen Ausverkauf der DDR gemeint war, ist mir schleierhaft: Das einzige, was nach der Öffnung der Grenze ausverkauft war, waren die Bananen bei Aldi, und das Geld zu diesem Ausverkauf stammte von westdeutschen Steuerzahlern. Oder war vielleicht der Ausverkauf der eigenen Landeskinder gemeint, mit dessen Erlös die Staatssicherheit ihre Devisenkonten füllte? Damit ist es nun hoffentlich für immer vorbei.
Ist es nicht an der Zeit, das ideologische Kriegsbeil zu begraben und die Vergangenheit ruhen zu lassen, damit wir uns gemeinsam den Aufgaben der Gegenwart und den Herausforderungen der Zukunft zuwenden können? Und ist es nicht unfair, auf einen am Boden liegenden Gegner einzudreschen, der sich selbst außer Gefecht gesetzt hat? Denjenigen, die so argumentieren, möchte ich die folgenden Sätze des chinesischen Schriftstellers Lu Hsün ins Stammbuch schreiben:
„Ob man einen Hund, der ins Wasser gefallen ist, schlagen soll oder nicht, hängt vom Verhalten des Hundes ab, wenn er wieder an Land kommt. Simple Gemüter glauben vielleicht, das Hineinfallen ins Wasser sei eine Art von Taufe, nach der ein Hund seine Sünden bereut und nie wieder einen Menschen beißt: Das ist ein schwerwiegender Irrtum. Deshalb glaube ich, daß alle Hunde, die Menschen beißen, geschlagen werden müssen, egal ob zu Lande oder zu Wasser. Besonders Möpse und Pekinesen müssen ins Wasser geworfen und verprügelt werden. Auch wenn sie von selbst ins Wasser fallen, kann es nichts schaden, sie trotzdem zu verprügeln. Natürlich, wenn man allzu viele Skrupel hat, braucht man sie nicht zu schlagen; aber man sollte auch kein Mitleid mit ihnen haben. Wer mit den Pekinesen allzu nachsichtig ist, der kann auch keinen anderen Hund schlagen; denn obwohl auch andere Hunde auf Kosten der Reichen leben und die Armen schikanieren, haben sie noch eine entfernte Ähnlichkeit mit Wölfen und werden manchmal wild - im Gegensatz zur Blasiertheit der Möpse. Aber das war nur eine Abschweifung, die mit dem Hauptthema nichts zu tun hat.“
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