Machtverlust für den Präsidenten

UdSSR: In einer engagierten Debatte verzögern die Volksdeputierten die Wahl Gorbatschows  ■  Aus Moskau Barbara Kerneck

Noch konnte Michail Gorbatschow gestern nachmittag nicht auf dem Amtssessel des ersten Präsidenten der Sowjetunion Platz nehmen. Doch zum Kandidaten wurde er bereits nominiert. An seiner Wahl (die nach Redaktionsschluß stattfinden sollte) bestand kein Zweifel mehr, nachdem auch prominente Vertreter der oppositionellen Delegiertengruppe sich für Gorbatschow ausgesprochen hatten.

Nach hitzigen Debatten im Kongreß der Volksdeputierten über die Macht des neuen Amtes wurde die ursprüngliche Vorlage in einem wichtigen Punkt verändert: Der künftige Präsident braucht eine Zweidrittelmehrheit im Obersten Sowjet, um einen Ausnahmezustand in einer der Sowjetrepubliken ausrufen zu können. Nur knapp scheiterte ein Antrag, dem künftigen Präsidenten die Ausübung anderer Ämter zu verbieten. Und erst nach Intervention von Politbüromitglied Jakowlew wurde abgelehnt, daß der Präsident schon dieses Mal direkt vom Volk gewählt werden sollte. Mit 1.542 gegen 368 Stimmen bei 76 Enthaltungen beschloß der Volksdeputiertenkongreß, den Präsidenten aus seiner Mitte zu bestimmen. Eine Mehrheit fand sich auch für den Antrag, das Oberste Gericht im Sinne der Gewaltenteilung von der Oberaufsicht durch den Staatspräsidenten zu befreien.

Zu einem Eklat kam es, als der Leningrader Deputierte Analoi Sobtschak Ministerpräsident Nikolai Ryschkow vorwarf, in einem Korruptionsfall verwickelt gewesen zu sein. Ryschkow, der gegen Gorbatschow um das Präsidentenamt kandidieren wollte, soll den Schmuggel von Panzern und anderem Kriegsgerät gedeckt haben. Zwar verwahrte sich Ryschkow gegen diesen Vorwurf, das Auditorium stimmte aber einem Antrag zu, die Sitzung eines Untersuchungsausschusses zu diesem Thema im Fernsehen zu übertragen.

In der leidenschaftlich geführten Debatte wurden eine ganze Reihe verfassungsrechtlicher Bedenken von der Redaktionskommission des Kongresses der Volksdeputierten in den ursprünglichen Entwurf aufgenommen. „Daß wir uns in diesem Saal befinden, haben wir Michail Gorbatschow zu verdanken“, rief der junge moldawische Dichter Tschobanu: „Aber jetzt ist die Stunde gekommen, in der wir Fortsetzung auf Seite 2

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Gorbatschow vor - Gorbatschow in Schutz nehmen müssen. Die Konzentration gewaltiger Macht in den Händen eines einzigen Menschen ist für die Demokratisierung der Gesellschaft gefährlich.“ Dagegen führte die Schriftstellerin Drunina noch einmal einen internationalen Blick auf das Präsidentenamt und seinen potentiellen Inhaber vor: „In den Augen der demokratischen Kräfte des Westens sind wir nicht mehr der „russische Bär, der im Kreise eingeschüchterter Gentlemen mit der Atombombe herumfuchtelt... Wenn Gorbatschow nicht gewählt werden wird, wird die zivilisierte Welt dies als Niederlage der Demokratie in der Sowjetunion und als Rückkehr zu der alten Konfrontation einschätzen.“ Der Leiter der Redaktionskommission, Kudr

jazew, trug schließlich die Kompromißvorschläge vor, die der Opposition den letzten Wind aus den Segeln nehmen sollten. Der Präsident kann dem neuen Gesetz zufolge nicht mehr selbständig den Ausnahmezustand in einzelnen Teilen des Landes verhängen. Sollte der Oberste Sowjet der Republiken bei Unruhen oder Katastrophen der Verhängung des Ausnahmezustandes nicht zustimmen, ist dazu eine Mehrheit im Obersten Sowjet der UdSSR nötig. Dem Präsidenten ist zwar nach wie vor ein Veto gegen Beschlüsse des Obersten Sowjet gestattet, doch sollten sich bei einer Neuvorlage zwei Drittel der Abgeordneten hinter den Beschluß stellen, muß auch er unterschreiben. Die ursprünglich geplante Zuflucht zu einem Referendum oder zur Einberufung des Kongresses der Volksdeputierten entfällt. So hat die Einführung des Präsidentenamtes - auf einem Umweg - die parlamentarischen

Rechte in der UdSSR schon gestärkt.