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Die Schriftsteller der DDR: ratlos

■ Die Literaturzeitschrift 'Temperamente‘ vor und nach der Wende

Die Wende kam, jedenfalls für die meisten Schriftsteller der DDR, ziemlich plötzlich und unerwartet. Nichts macht den plötzlichen Umbruch deutlicher als die vergleichende Lektüre der beiden letzten Hefte der DDR-Zeitschrift 'Temperamente . Blätter für junge Literatur‘, die sich seit ihrem Start vor zehn Jahren zum wichtigsten Forum junger, kritischer und avantgardistischer Autoren innerhalb der DDR entwickelt hat. Das eine Heft, Nummer 5/89, ist im Dezember erschienen; der Redaktionsschluß lag jedoch zwei Monate vor der Wende, am 8.August 1989. Das andere Heft, Nummer 1/90, ist Anfang Februar herausgekommen. Als Redaktionsschluß ist der 5.Dezember 1989 vermerkt. Zwischen beiden Heften scheinen auf den ersten Blick Welten zu liegen.

Im nachhinein fällt bei dem vor der Wende redigierten Heft der 'Temperamente‘ ins Auge, wie wenig in den Texten der überwiegend jungen Autoren vom Unmut der Bevölkerung des Landes zu spüren ist, nicht einmal zwischen den Zeilen. Mit einer bemerkenswerten Ausnahme: die Zeitschrift dokumentiert die Songs einiger neuer Rockgruppen in Ost-Berlin. In diesen Rocktexten wird nichts beschönigt, wird nicht um die Tatsachen herumgeredet, aus ihnen spricht die ganze Tristesse des DDR-Alltags vor der Wende. Sie sind geprägt von der Hoffnungslosigkeit der Jugend, von ihrer Zuflucht in den Alkohol und in mutwillige Zerstörung, aber auch von einer dumpfen Sehnsucht nach Aufbruch und Ausbruch.

Belanglos wirken dagegen die allermeisten Dichtergedichte, in denen der ironische Akzent überwiegt. Der experimentelle Charakter beschränkt sich durchweg auf Sprachspielereien und die Persiflage von Alltagsweisheiten. Die ewigen Wahrheiten der Partei bleiben außerhalb der Kritik. Es fällt in dem ganzen Heft kein einziges Wort zu den Umwälzungen in den sozialistischen Ländern. Die Niederschlagung der Demokratiebewegung in China wird mit keinem Wort erwähnt. In der „Umschau“ wird neue Prosa aus der Sowjetunion vorgestellt, aber es ist keine Kurzgeschichte dabei, die wirklich an die Substanz des real existierenden Sozialismus geht.

Gänzlich anders präsentiert sich dagegen das Heft 1/90 der 'Temperamente‘, das den programmatischen Titel „Oktobertexte“ trägt. Das Schwergewicht liegt dabei nicht auf den politischen, sondern den literarischen Zeugnissen des Umbruchs. Das unterscheidet diese Dokumentation auch von den meisten anderen Textsammlungen, die seither hüben wie drüben nach den Ereignissen vom Oktober und November 1989 herausgegeben worden sind. Kein Zweifel, auch dieses doppelstarke, mehr als 200 Seiten umfassende Heft der 'Temperamente‘ belegt: die Autoren der DDR hatten mit der Demonstration am Berliner Alexanderplatz am 4.November letzten Jahres ihre historische Stunde. Mehr als eine halbe Million Menschen haben an diesem Tag Christa Wolf, Heiner Müller, Stefan Heym und Volker Braun zugejubelt, weil sie bis zu diesem Zeitpunkt die kritischen Schriftsteller der DDR als ihre Sprecher und Anwälte ihres Vertrauens angesehen haben. Doch spätestens mit dem 9.November, dem Fall der Mauer, scheint sich das Blatt zu wenden. Seitdem, die 'Temperamente‘ machen diesen Prozeß chronologisch nachvollziehbar, nimmt die Entfremdung zwischen den intellektuellen, künstlerischen und literarischen Vorläufern und Vorkämpfern der Wende und den Massen zu, die zuerst riefen „Wir sind das Volk“ und dann, nach der Öffnung der Grenze: „Wir sind ein Volk“. Christa Wolf, Heiner Müller und Volker Braun halten auch dann noch an ihrem Traum von einem anderen, demokratischen, menschlicheren Sozialismus fest, als die Menge längst die Wiedervereinigung auf ihre schwarz -rot-goldenen Fahnen geschrieben hat. Einzig Reiner Schedlinsky fragt in einem selbstkritischen Essay, Gibt es die DDR überhaupt, nach der Identität, der Existenzberechtigung und der Dauerhaftigkeit des Projektes DDR.

Die meisten Autoren, auch die mit den großen Namen und der unbestrittenen moralischen Autorität, sind angesichts der Umwälzungen ratlos. Am ehrlichsten drückt Heiner Müller in seinem Gedicht Fernsehen seine Verwirrung aus. Die Schlußzeilen lauten: „Auf dem Bildschirm sehe ich meine Landsleute / Mit Händen und Füßen abstimmen gegen die Wahrheit / Die vor vierzig Jahren mein Besitz war / Welches Grab schützt mich vor meiner Jugend“.

Christa Wolf setzt in einem Interview mit dem Deutschlandfunk noch am 8.Oktober auf die reformerischen Kräfte in der Partei und im Staat und nennt den Ruf nach der Wiedervereinigung „ein heuchlerisches, gefährliches Geschwätz“. Volker Braun warnt zur gleichen Zeit die Ungarn vor dem Rückfall in den Raubkapitalismus. Stefan Heym beschwört seine utopisch-sozialistischen Träume noch, als der Zusammenbruch des Regimes auf ganzer Ebene unübersehbar geworden ist. Gemessen am weiteren Gang der Ereignisse, bleibt auch die Stellungnahme des Schriftstellerverbandes vom 12.Oktober mehr als zaghaft. Das Präsidium unter Hermann Kants Leitung fordert „revolutionäre Reformen“, wagt aber den Rücktritt Honeckers immer noch nicht zu verlangen. Da waren die hundert Rockmusiker mit ihrer Erklärung am 9.Oktober ganze Schritte weiter: Sie nannten die Mißstände im Lande und namentlich im Kulturbereich konkret beim Namen, während die Schriftsteller immer noch um die Sache herumredeten.

Die Auswahl der „Oktobertexte“ durch die namentlich unveränderte Redaktion der 'Temperamente‘ ist sicher alles andere aus ausgewogen. Die kirchlichen Oppositionsbewegungen kommen kaum vor. Der lokale Schwerpunkt liegt auf der DDR -Hauptstadt. Die Vorgänge im Süden der DDR, in Dresden und Leipzig, werden nur am Rande gestreift. Die Entwicklung in Leipzig wird mit Skepsis und Distanz betrachtet.

Die Textsammlung hat gewiß ihre Lücken, Mängel und Schwächen. Sie enthält manchen Text, der kaum über den Tag hinaus Bestand haben dürfte. Aber als Selbstzeugnis der DDR -Schriftsteller wird dieses Heft dennoch seine Aussagekraft behalten. Es belegt beredt und offenbar unfreiwillig, wie hilf- und ratlos sich der Großteil der literarischen Intelligenz angesichts des Volksaufstandes in der DDR verhalten hat. Insofern räumen die „Oktobertexte“ zugleich mit einer Legende auf, mit der auch im Westen vielfach verbreiteten Vermutung, daß die DDR-Revolution in der Hauptsache ein Werk der Dichter und Denker gewesen ist. Die Schriftsteller haben ihren Teil zur psychologischen Vorbereitung der Erhebung geleistet. Aber als die Massen auf die Straßen gingen und ihre eigenen Losungen verkündeten, standen die Meister des Wortes am Straßenrand und waren, wie Oliver Tietze in einem Gedicht vom 5.Oktober 1989 festhält, verwundert darüber, daß „immer mehr Leute bei Rot über die Straße gehen“.

Peter Schütt

'Temperamente . Blätter für junge Literatur‘. Verlag Neues Leben, Berlin/DDR. Heft 5/89, Heft 1/90. Einzelpreis 4 Mark. Das Heft 1/90 ist gleichzeitig bei der Westberliner Elefanten Press erschienen und kostet dort 10 DM.

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