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Weizsäckers Pragbesuch mehr als nur Symbolik

Vaclav Havel: Kollektivschuld der Deutschen für Nazi-Unrecht abgelehnt, reinigende Selbstbefragung der Tschechen sei ausgeblieben / Bundespräsident sagte, die Deutschen brauchten Mahnung der Tschechen / Geschichte nicht zur Aufrechnung gebrauchen  ■  Aus Prag Christian Semler

Genau 51 Jahre ist es her, daß die Deutsche Wehrmacht an einem Spalier von vor Trauer und Zorn erstarrten Menschen vorbei durch die Straßen Prags paradierte. Heute ist der Wenzelsplatz und Umgebung fest in der Hand deutschsprechender Touristen, und vor den Deutschen hat kaum einer noch Angst. Richard von Weizsäcker konnte an einem wunderbaren Vorfrühlingstag Hände schütteln, über die Karlsbrücke promenieren, nachdem er sich zusammen mit Havel und ein paar hundert freiwillig Ausharrenden vom Balkon der Burg gezeigt hatte. Daß sich das Treffen nicht in schierer Symbolik und gut gemeinten Gesten erschöpfte, dafür sorgte Vaclav Havel mit einer aufsehenerregenden Rede.

Hatte er schon vor einigen Wochen mit einer öffentlichen Entschuldigung gegenüber den vertriebenen Sudetendeutschen die Mißbilligung zahlreicher tschechoslowakischer Bürger auf sich gezogen, so fiel sein Urteil über die Haltung vieler Tschechen gegenüber der deutschen Minderheit nach 1945 noch schärfer und grundsätzlicher aus. Havel verurteilt jede Form der Kollektivschuld, nicht weil sie Rache statt Recht übt, sondern weil auch an die Stelle individueller Verantwortlichkeit moralischer Nihilismus trete. Havel erinnerte auch daran, wie viele Tschechen und Slowaken mit dem Nazi-Regime kollaboriert hätten, und viele Malaise weil eine reinigende Selbstbefragung ausgeblieben war - zur freiwilligen Anpassung an den Realsozialismus geführt habe.

Zur deutschen Einheit erklärte Havel, es liege an den Deutschen selbst, ob sie durch endgültige Anerkennung der Grenzen und eine entschlossene Verurteilung des neuen Nationalismus das Mißtrauen ihrer Nachbarn ausräumten oder nicht. Deutschland könne künftig zu einer der Hauptquellen eines Spiritualismus werden, der die technische Zivilisation und die ihr folgende Entfremdung überwinde. Nur sollten die Deutschen ihren bewährten Sinn für Ordnung auch im Prozeß der Einigung beibehalten. Chaos und übereilte Angst vermeiden.

Weizsäcker übte sich bei seiner Ansprache in Ausgewogenheit. „Wir schulden ihnen“, sagte er den Tschechen, „Erinnerung, und wir brauchen ihre Mahnung.“ Die Geschichte solle man nicht zur Anklage, Mahnung oder Aufrechnung mißbrauchen, man solle ihr einfach ins Auge sehen. Weizsäcker erinnerte an die uralte Nähe der Tschechen und Deutschen, feierte Prag als Zentrum intellektueller und künstlerischer Produktivität, vergaß nicht den großen Pädagogen Komenius zu zitieren, und erinnerte artig daran, daß die tschechische Bibelübersetzung immerhin 100 Jahre vor der Lutherschen stattgefunden habe.

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