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„Ehrlich“ - aber chancenlos?

Bei den, im Bündnis 90 zusammengeschlossenen Bürgerbewegungen ist die Hochstimmung vom Herbst längst der Skepsis vor dem Wahlausgang gewichen/ West-unabhängige Konzepte sind in der Bevölkerung kaum mehr gefragt  ■  Von Matthias Geis

Wolfgang Ullmann ist ein guter Verlierer. Wenn der Minister ohne Geschäftsbereich im Kabinett Modrow und einer der Spitzenkandidaten des Bündnisses 90 trotz eines emphatischen Plädoyers eine Abstimmungsniederlage am Runden Tisch einstecken muß, strahlt der derzeit wohl profilierteste Oppositionspolitiker der DDR übers ganze Gesicht. Bescheidenheit? Ein wenig Verlegenheit angesichts der Borniertheit seiner Mitmenschen? - Schwer einzuschätzen, was dem 53jährigen Kirchenhistoriker das Lachen aufs Gesicht treibt. Jedenfalls bringt Ullmann mit der so demonstrierten Distanz zu den eigenen politischen Intentionen gute Voraussetzungen mit, den drohenden Wahlsonntag ohne allzuviel Wehmut zu überstehen. Denn die Prognosen für das Bündnis der Bürgerbewegungen Neues Forum, Demokratie Jetzt und Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM) versprechen den treibenden Organisationen der Herbstrevolution eine eher marginale Rolle in der künftigen Volkskammer.

Bei den Bündnisaktivisten trifft man auf sehr unterschiedliche Einschätzungen, wenn es um das bevorstehende Wählerurteil geht. Konrad Weiß versucht, den Anflug von Melancholie hinter lockerem Optimismus zu verbergen; Stefan Bickhard, Geschäftsführer von Demokratie Jetzt, flüchtet sich in Selbstironie; Wolfgang Templin von der „Initiative“ demonstriert - „auf jeden Fall bis zu den ersten Hochrechnungen“ - trotzige Zuversicht. Wenn die das Ergebnis vom Sonntag nicht übersteht, hat er schon die tröstende Interpretation parat: „Das Bündnis ist Sympathiegewinner der Volkskammerwahl.“

Diese vorweggenommene Interpretation des Wahlergebnisses hat derzeit in den Räumen der Bündnisorganisationen im Ostberliner Haus der Demokratie Konjunktur. Die Angst vor einem Wahlsieg der konservativen „Allianz für Deutschland“ so ist zu hören - treibt auch diejenigen, die ansonsten dem Bündnis zuneigen, in die Arme der Sozialdemokraten. Auf den Wahlkampfveranstaltungen werde immer wieder deutlich, daß viele die Rolle der Bürgerbewegung im Herbst nicht vergessen haben. Doch jetzt - so wird die bevorstehende Wahlentscheidung ironisiert - sei eben „richtige Politik“ gefragt, und die sei Domäne der Parteien, vor allem solcher Parteien, die über West-Unterstützung und Etikettenkongruenz mit dem jeweiligen BRD-Pendant ihren Politikbefähigungsnachweis erworben haben. Der Mechanismus geborgter Popularität scheint selbst im linksalternativen Spektrum zu greifen, wo - glaubt man den Prognosen - die Grüne Partei, die während des Umbruchs kaum eine Rolle spielte, jetzt in der Wählergunst vor dem Bündnis rangiert.

„Ihr seid ehrlich, aber ihr habt keine Chance“, pointiert Oppositionsminister Gerd Poppe leicht entnervt das wohlwollende Kalkül sympathisierender Wähler, die ihre Stimme nicht an die Bürgerinitiativen „verschenken“ wollen. „Die“, meint Stefan Bickhard, „kaufen sich dann eben bei den Parteien ein.“

Von einem „auslaufenden Politikmodell“ war noch Anfang Januar auf den Versammlungen des Neuen Forums selbstbewußt die Rede, wenn es um die Parteiendemokratie ging. Doch die gesellschaftliche Überzeugungskraft des Modells Bürgerbewegung ist nicht erst in den letzten Wochen vor der Wahl rapide im Schwinden begriffen. Die Bewegung der Bürger verlor paradoxerweise in dem Maße an Bedeutung, in dem der demonstrative Widerstand gegen das Regime durchschlagenden Erfolg zeitigte. Das historische Verdienst der Bürgerbewegung liegt unstrittig in der Demontage der alten Macht. Doch jetzt, wo es um die Konstruktion einer demokratischen Ordnung mit Übergangscharakter ins „einig Vaterland“ geht, verlieren die Exponenten der Revolution ihre dominante Stellung. Nicht, weil sie keine Konzepte hätten, sondern eher, weil es um Konzepte und Leute, denen man sie zutraut, gar nicht zu gehen scheint.

Anders läßt sich der Negativtrend der letzten Monate kaum erklären. Die Bürgerbewegungen haben nicht nur auf den Demonstrationen die überzeugendsten VertreterInnen präsentiert. Während etwa die Sozialdemokraten ihre dünne Personaldecke mit West-Unterstützung kompensieren, finden sich allein in der vergleichsweise kleinen Bewegung Demokratie Jetzt - mit Wolfgang Ullmann, Ulrike Poppe oder Konrad Weiß - einige, mit denen die SPD liebend gerne ihr künftiges Kabinett zieren würde.

An den Personen, ihrer Integrität und Überzeugungskraft kann es also nicht liegen, wenn selbst ehemalige Blockparteien wie die CDU gegenüber dem Bündnis ein Vielfaches der Stimmen einheimsen werden. Vielmehr scheint sich die Skepsis der Bürger gerade an dem festzumachen, was die Protagonisten des Bündnisses für die eigentliche Stärke ihres politischen Ansatzes halten: das Konzept Bürgerbewegung. Sie sind für alle offen, und sie sind basisdemokratisch organisiert; ihre Politikfähigkeit und Innovationskraft beruht nicht auf „klaren“ Strukturen und der Zuarbeit aus den Apparaten, sondern auf der Initiative und Selbsttätigkeit ihrer Mitglieder. Man habe die Demontage des stalinistischen Systems - so die einleuchtende Begründung - nicht „von unten“ durchgesetzt, um jetzt erneut die Wahrnehmung der eigenen Interessen beim Aufbau einer neuen Gesellschaft „nach oben“ zu delegieren.

Nicht schwer zu prognostizieren, daß das ideal klingende Selbstverständnis, das auf den Wahlplakaten mit dem Motto „Bürger für Bürger“ beworben wird, in der künftigen parlamentarischen Praxis Federn lassen wird. Aber auch darin dürfte kaum die Ursache mangelnder Attraktivität des Bündnisses liegen. Vielmehr scheint die Hoffnung auf das jahrzehntelang unterdrückte - politische Partizipationsinteresse der DDR-BürgerInnen nach der kurzen Revolte schon wieder ins Leere zu laufen. Das Ende der Bevormundung fällt zusammen mit wachsender Verunsicherung und Desorientierung.

Die von westlichen Wahlkämpfern verpackten Stereotypen versprechen vielen allemal mehr Orientierung, als der Appell der Bürgerbewegungen an Selbsttätigkeit und politischer Eigeninitiative zu bieten scheint. Das schon versprochene westliche Modell mit eigenen Vorstellungen anzureichern, dürfte vielen geradezu als obszön erscheinen. Gemessen am bisher gewohnten politischen, aber auch materiellen Standard werben Allianz und SPD gleichermaßen mit einem schlechthin unschlagbaren Modell. Dessen möglichst schnelle Übernahme ist ein gigantisches, wenn auch in jeder Hinsicht unkalkulierbares Experiment. Daß es den Wahlkämpfern dennoch gelingt, dies unter dem Motto „keine Experimente“ zu verkaufen, ist nicht nur einer der größten demagogischen Coups der neueren Geschichte; darin offenbart sich zugleich die Konkurrenzlosigkeit ihrer Kampagne. Wer, wie das „Bündnis“, dagegen mit skeptischem Vorbehalt und emanzipatorischem Appell anzurennen versucht, findet sich derzeit in schier hoffnungsloser Position.

„Wir haben schon Politik gemacht, als wir noch systematisch unterdrückt wurden“, reagiert Gerd Poppe (IFM) selbstbewußt auf die neuerliche Defensive. „Ich habe keine Bedenken, daß wir als Bürgerbewegung weiter bestehen werden.“ Die Initiative ist die älteste der „neuen“ Organisationen. Gegründet 1985, war sie die erste und bis in die Zeit unmittelbar vor der Wende die einzige, von der Kirche unabhängige Oppositionsgruppe. Die von ihr herausgegebene Zeitschrift 'Grenzfall‘ war außerdem die einzige systemkritische Publikation, die nicht unter dem Schutz der Kirche herausgegeben wurde. Die Mitglieder der Initiative waren jahrelang einer massiven Verfolgung durch die Staatssicherheit ausgeliefert. Fast alle bezahlten für ihr Engagement mit Berufsverbot und Haftstrafen. Die Initiative ist die kleinste Gruppierung im Bündnis. Aber profilierte Mitglieder der anderen Organisationen wie Bärbel Bohley, Ulrike Poppe, Martin Böttger kommen ursprünglich aus der IFM. Auch den Vorsitzenden und Spitzenkandidaten der SPD, Ibrahim Böhme, hat die Initiative an die Genossen abgegeben.

Ebenso konnten die Mitglieder von Demokratie Jetzt in der Zeit vor dem Umbruch Erfahrungen in der Opposition sammeln. Die Gruppierung ist aus der kirchlichen Basisinitiative „Absage an Prinzip und Praxis der Abgrenzung“ hervorgegangen, die mit ihrer Kritik an der außen- und innenpolitischen Abschottung den - freilich lange marginalisierten - Reformdiskurs der DDR bestimmte. Als erste der Bündnisorganisationen formulierte Demokratie Jetzt einen demokratisch-sozialistischen Programmentwurf für die DDR nach der Wende.

Auch wenn man sich - ebenso in der Initiative wie bei Demokratie Jetzt - angesichts der katastrophalen Konkursmasse des alten Regimes vom Sozialismusbegriff oder der Utopie eines dritten Wegs zwischen Kapitalismus und Sozialismus vorerst verabschiedet hat, scheint in der Argumentation immer wieder Skepsis gegenüber der dominanten marktwirtschaftlichen Euphorie durch. Zumindest die Hoffnung auf Verhinderung geballter ökonomischer Macht ist von der ursprünglichen Intention einer Demokratisierung und Vergesellschaftung der Wirtschaft geblieben. Natürlich habe man sich am Anfang „einen politischen Ansatz gewünscht, der die Idee des demokratischen Sozialismus offensiv vertritt“. Doch mit den aufgesetzten, zugleich hoffnungslos diskreditierten Begriffen läßt sich, so Templin, „die Reformdiskussion heute nicht mehr führen“.

Damit trifft Templin ziemlich genau die Mehrheitsposition im Neuen Forum, dem mit immer noch über 100.000 Mitgliedern größten Bündnispartner. Während sich die beiden kleineren Organisationen aus linksintellektuellen Oppositionszirkeln entwickelten, versuchten die Initiatoren des Neuen Forums von Anfang an eine programmatisch-ideologische Festlegung ihrer Bewegung zu vermeiden. Man dürfe den gerade aktiv gewordenen BürgerInnen nicht schon wieder „von oben“ inhaltliche Festlegungen aufzwingen. Alle Programmaussagen müßten basisdemokratisch erarbeitet werden. Es gelte jetzt, „Demokratie gemeinsam zu erlernen“ - so das eingängige Motto. Diesem Selbstverständnis verdankt das Forum seinen fulminanten Zulauf vom Herbst - und seine internen Konflikte in den darauffolgenden Monaten. Denn die Mitgliedschaft deckt fast das gesamte politische Spektrum ab - von der Vereinigten Linken bis weit ins konservative Lager. Mehrmals stand das Forum vor der Spaltung. Überhaupt hing das Zustandekommen des Bündnisses, das vor allem in der Provinz vielen als „zu links“ erschien, längere Zeit auf der Kippe. Die internen Auseinandersetzungen wurden letztlich nur unter dem Druck des vorgezogenen Wahltermins ausgeblendet. Das Selbstverständnis der Bürgerbewegung, inhaltlichen Dissens auszutragen und unterschiedliche Meinungen zu tolerieren, hätte allein nämlich kaum ausgereicht, den Bruch zu verhindern.

Die konträren Positionen helfen einigen denn auch über die eher dünnen Wahlaussichten des Bündnisses hinweg: „Ich weiß gar nicht“, räsoniert Reinhart Schult, Exponent des linken Flügels im Neuen Forum, „ob die Fraktion meine Interessen vertritt. Deshalb ist es nicht so schlimm, wenn da nicht ganz so viele reinkommen.“ Der Schwerpunkt der künftigen Arbeit sei ohnehin nicht das Parlament, sondern die Basisarbeit. Ähnlich wehrt sich Stefan Bickhard gegen die Überbewertung der Volkskammer für das Bündnis; er sieht die eigentliche politische Chance der Bürgerbewegungen in den Kommunen. Das ist durchaus nicht bescheiden gemeint. Zumindest bei Demokratie Jetzt wird bereits über die Möglichkeit einer Ausdehnung auf die Bundesrepublik nachgedacht.

Schon der Begriff Wahlkampf geht vielen aus dem Bündnis derzeit an die Nerven. Jens Reich, Gründungsmitglied des Neuen Forums, macht aus seinem Entsetzen über die „Schlammschlacht“, die sich derzeit auf dem „Nebenkriegsschauplatz der Bundestagswahl“ abspielt, keinen Hehl. „Wir machen keinen Wahlkampf“, distanziert sich Konrad Weiß und schlägt für die Vorwahlaktivitäten des Bündnisses den Begriff „Wahlinformation“ vor. Eine Million Mark aus dem Staatshaushalt und „ein paar D-Mark von den Grünen“ projektbezogen, versteht sich - hat das Bündnis für die „Information“ ausgegeben. Podiumsveranstaltungen in den Zentren und „absolute Flaute“, so die Leipziger Spitzenkandidatin Sonja Schröter, „in der Provinz“. Immerhin ein paar Höhepunkte wie die Veranstaltung mit Wolf Biermann vorige Woche in der Gethsemane-Kirche, dem Berliner oppositionellen Zentrum der Wende. Zweitausend waren zu dieser „Nostalgieveranstaltung“ (Schult) gekommen.

Natürlich habe man im Wahlprogramm Konzessionen gemacht. „Wo alle das Blaue vom Himmel versprechen“, sagt Templin, „muß man, auch unter dem Druck der eigenen Leute, etwas anbieten.“ Immerhin finden sich im Programm keine Garantien, eher ein allzu harmonisches, mit den herrschenden Realitäten kaum vermitteltes Szenario einer solidarischen, ökologischen, sich selbst beschränkenden Gesellschaft. „Brüche“, meint Templin, werden vermieden. „Was rauskommt, ist blasser und leerer“, als es dem aktuellen Problembewußtsein entspricht.

Was das Bündnis als zentrale politische Intention seiner Arbeit begreift? Dem massiven Trend, sich „aus der Geschichte zu stehlen“, entgegenzuarbeiten. Michael Bartuschek sieht im nachvollziehbaren Drang nach Westen einen fatalen Mechanismus individueller Verdrängung und zugleich kollektiver Entsolidarisierung gegenüber den osteuropäischen Nachbarn am Werk. Die Attraktivität des Westens beruht nur vordergründig auf dem materiellen Glimmer, den er den entwöhnten DDR-BürgerInnen verspricht. „Die Einheit“ ist nicht nur das Synonym für das Ende der sozialistischen Misere; sie ist auch das Versprechen auf Tabula rasa für 40 Jahre persönliche Verstrickung und Verantwortung - und die Chance, die osteuropäische Zwangsgemeinschaft zu verlassen. Demgegenüber steht das Bündnis für die Aufarbeitung der eigenen Geschichte, die Verkoppelung des Einigungsprozesses mit den Interessen der osteuropäischen Völker und die von beiden Staaten bestimmte Einigung. „Dieser Prozeß“, so Templin, „läßt sich nicht willkürlich abkürzen.“ Prägnanter läßt sich die Zumutung, die das Bündnis den WählerInnen verspricht, nicht formulieren.

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