SOCKENSCHUSS: Schlechtwetter-Demokratie
■ Zur Dialektik von Grundrechten und Sonnenschein
Rechte Kirchenfürsten und linke Revolutionäre haben es schon immer gewußt: Die parlamentarische Demokratie kann keine gottgefällige Form zur gesellschaftlichen Regelung zwischenmenschlicher Beziehungen sein. Als Gott Adam und Eva erschuf, müssen ihm andere Regelmechanismen größerer Gemeinwesen vorgeschwebt haben.
Ein der Demokratie gnädiger Gott hätte jedenfalls nie und nimmer gestern den Frühling ausbrechen lassen. Dieses Wetter an diesem Tag – erste freie DDR-Wahlen sprechen nicht gegen, sondern für diese These – ist der massive Einsatz (höherer) Gewalt gegen Grundrechte. Nehmen wir die Pressefreiheit: Keiner der Grundgesetz-Väter kann auf seiner Rechnung gehabt haben, daß die journalistische Aufgabe, an der politischen Meinungsbildung mitzuwirken, mit solch subversiven Launen eines Wettergottes kollidieren könnte: Am ersten sonnigen Sonntag im vollen Bewußtsein einer draußen tobenden Welt von Feiertagsausflüglern in dunklen Redaktionsstuben seinen staatsbürgerlichen Pflichten nachzukommen, muß jedes journalistische Ethos überfordern. Das Jammern über die Schönwetterdemokratie: Seit gestern wird man es mit anderen Augen betrachten müssen.
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