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VERWAISTE GEDICHTE

■ „WoWo bist du - gestern warst du DaDa“ - WOWOistisches im Schauplatz

„Bist du gerade gekommen?“ fragt ein Großer von der Bühne, vorne, wenn das vorne ist, was später hinten sein wird. Aber während der Schreiber als notorischer Zuspätkommer sich entschuldigen will, antwortet schon ein anderer. „Nein, gebückt.“

Spärlich sind die Requisiten: Tarnnetze hängen herab; ziemlich viel Rauch kommt von der Bühne her. Rechts steht eine Kiste, links „Nr.1“, unverwechselbar Alfons Kujat, der damals als Berliner Villon den IWF-Gegenkongreß eröffnet hatte. Groß und steif - aus dem zu kleinen Anzug hängen Hände und Füße - stelzt er über die Bühne. Irgendwelche sinnlosen Pläne und Verabredungen sind da im Gange, und eine Reihe von Verwirrungen beginnt. Aus der Kiste erhebt sich ein blinder Passagier in Fliegermütze in dunklen Arbeitsklamotten mit angemaltem Bärtchen (...). Irmtraud Frederking und Nr.3, Agent in Trenchcoat mit Spielzeug-MP (Andreas Tarkmann - ehemaliger Philosophiedozent in Ost und West, gleichzeitig Regisseur des Schauplatz), gibt Nachricht oder erhält Anweisungen durch ein Walkie-Talkie. Von irgendwem. Alle zusammen singen ein Lied : „Wenn in London der glutrote Mond seine schwarze Runde macht...“ - das ist die Melodie der Caprifischer - und bleiben immer an irgendeiner Stelle stecken; und müssen von vorn anfangen auf der anderen Seite des Raumes, hinten, auf einer anderen Bühne. Das wiederholt sich drei oder vier Mal. Übergangsweise trägt einer den anderen auf seinem Rücken ein schon fast archetypisches Bild, unfehlbar gut, wie alle Archetypen (und es taucht mittlerweile in fast jedem guten Stück auf). Kujat klagt über einen „Stein im Schuh“, und die Worte treten als Lautmaterial in ihrer absurden Willkürlichkeit hervor. Jeder Kiffer weiß es als Komik zu schätzen, wenn die Bindung zwischen Lautbild und Bedeutung sich lockert, und das Lautbild an die Stelle der Bedeutung tritt. Dann kann jedes Wort zur Quelle größter Heiterkeit werden.

Die vollkommenste Form des Gedichts, der theatralischen Geschichte, sei die der Verwaisung, meint „der erste WoWoist deutscher Sprache. Das elternlose Kind, den Erziehungsheimen deutschsprachiger Kunst über die Gatter gehüpft: Gestern warst du noch dada.„ Die Stücke, Szenen, Lieder von Friedrich Kändler, dem 40jährigen Hannoveraner Extheologiestudenten, der in seiner Heimatstadt als Schwittersnachfolger gehandelt wird und in Berlin mittlerweile „schon richtige Fanclubs“ (Kujat), haben eigentlich keinen narrativen Zusammenhang. Es handelt sich aber auch nicht um die zu oft kopflastig aufgesetzte Zerstörung gegebenen Sinns. Eher versteckt sich Sehnsucht oder Melancholie zwischen den Worten, und vor allem ist es Theater. Und wenn es eigentlich keine Geschichten gibt, die man nacherzählen könnte, wird die Darstellung zum Objekt, zur Materie, zur Oberfläche, wie die Farbkruste auf einer Malerei. Das, was geschieht, ist zugleich Zeichen der Arbeit und etwas, was seiner ganz eigenen Logik folgt.

„Leben ist Irritation. Verständnis ist möglich, doch nie deckungsgleich. Verstehen die Menschen, sterben die Dichter. - Wowo bist du.“ Kändler hat dem Dadaismus eine Seele gegeben, sagt einer der Schauspieler, aber eigentlich ginge es immer um Liebe. Und Liebe entsteht wie Melancholie oder Sehnsucht nicht, wenn der Begriff der Wirklichkeit entspricht, wenn zwei eins werden, sondern wenn die Unterschiede gerade deshalb zutage treten, weil es eine Sehnsuchtsschnittmenge gibt. Nicht mehr. Und diese Sehnsucht richtet sich darauf, das zu verstehen, was nicht deckungsgleich ist, und hier als Theater hervortritt.

Darüber hinaus tritt es im Stück als Wiederholung hervor, die sich strukturell eigentlich ihres Ursprungs vergewissern will, und doch nie identisch mit ihrer Urform sein kann. Das ist immer komisch, umso komischer, wenn es ironisch gespielt wird, weil die Sehnsucht, das Entscheidende (sei es auch nur das kleine Lied) endlich richtig richtig zu machen, als wirkliche Sehnsucht zitiert, als gesellschaftlicher Zustand denunziert und durchgestrichen, zugleich auch immer unterstrichen wird. „So geht das nicht“, jammern die Schauspieler und müssen noch einmal beginnen, „oder hast du eine bessere Idee.“

Eigentlich müßten ihnen die Zuschauer mit einem „Genug“ Einhalt gebieten, oder die Schauspieler müßten immer weitermachen. Weder das eine noch das andere geschieht. Stattdessen gibt es die nächste Szene, ein Lehrgespräch zwischen Meister (Kujat) und Schüler (Andreas Tarkmann), beide in weißen Mönchsgewändern.

„Was ist das Leben? - Das Leben ist das Leben. Das Leben verzehrt sich... - Was ist, wenn das Leben sich gegessen hat - ist es dann fort? - Nein. Sieh dort die Schlange. Sie versucht sich selbst zu verspeisen. Sie scheitert am Mund, den zu essen ihr nicht gelingt. (...) Es wird immer etwas übrigbleiben: Das ist das Leben.“ Der Dialog ist als Lehrgespräch zugleich philosophisch-theologisch sauber und ironisch. Etwas bleibt von der Rede, weil doch zugleich ihr wörtlicher Anspruch ironisch durchgestrichen ist. Und „das Leben“ wird zusätzlich komischer, wenn man weiß, daß Kujat seine Brötchen in der stadtbekannten Kantine eines stadtbekannten Ausbeuterbetriebes verdient.

Im Hintergrund spielt Nadine Buchet Klavier; Musik von Puccini, Holger Gericke oder Andreas Tarkmann. Alte Rosen zieren ihr hübsches Hemd. Nie gibt es einen falschen Ton, am Klavier oder in der Aufführung, die ihren Reiz vielleicht nur in der Intimität des Schauplatz entfalten kann. Szenen und Songs wechseln einander ab, wie in einer Revue. Da gibt es schwarze lustig-melancholische Lieder, „ihr sollt mich nicht verbrennen, nicht vergraben - gebt meinen Körper den Raben“ - das ist der kleine bärtige Andreas Tarkmann, der da so schön und wahrhaftig singt und der dabei wahrscheinlich wirklich an den Tod denkt. Umso besser. Umso lustiger.

Es sind die Facetten des gefühlten, nicht des gedachten Lebens, die diesen Abend so schön werden lassen. Wenn Meinolf Ebeling so großartig als einsamer Beamter eine Strohpuppe an sein Herz drückt und wieder von sich wirft: „Das ist Quatsch, so wie du aussiehst!“ und wenn er schon wissend, daß sie nie kommen wird, sich eine „heiße Nacht spontaner Zuneigung“ vorstellt, so sind die Worte gerade in ihrer Ironie rührend. Denn für Liebe hat ihm der Herrgott „die falsche Währung mitgegeben“. So liest er traurig im 'Playgirl‘ so lange, bis ein Antragsteller, wieder Alfons Kujat, kommt, und ein Formular begehrt. Denn er liebt „sie“ und will „sie“ heiraten. Und es beginnen Verwirrungen zwischen „sie“, „Sie“, „Ihnen“, „ihnen“, - einige der gefürchteten Kollegen des rührend paranoiden Beamten, bezeichnet mit dem mythischen „sie“, heißen „eben“, „oder“ oder „aber“ oder haben andere ganz merkwürdige Namen. Dem einen erscheint die sehr langsam, statuarisch gespielte Szene als wunderbare Anspielung auf Dostojewskis grandiosen Beamtenromane wie „Der Doppelgänger“, dem anderen gefällt es auch so, und man hofft so sehr, daß der Antragsteller doch wirklich gesagt hätte: „Ich liebe Sie“ und nicht „Ich liebe sie“, hofft, daß der arme Beamte in den Armen des Antragstellers Erfüllung findet.

Im Schlußsong entlädt sich die angestaute Sehnsucht. Alfons Kujat, als Schlagerstar im roten Samt und Glitzerkram, die anderen als Chor im Schlepptau, singt sein Lied vom Schatz, der bedauerlicherweise schon längst tot und ein wurmdurchfressener Zombie ist. „Denn die Liebe, ja die Liebe ist immer noch so, wie sie damals war. Doch die Liebe, ja die Liebe! juchhu die Liebe! jawohl die Liebe! ist immer noch so, wie sie damals war!!!“

Detlef Kuhlbrodt

„WOWO BIST DU - Gestern warst Du DADA“

Di bis Sa um 21 Uhr im Schauplatz, Dieffenbachstraße 15

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