: Der irische Ödipus
■ „Der Held der westlichen Welt“, inszeniert von Helmut Griem in den Münchner Kammerspielen
Da kommt ein Fremder nachts in eine einsame Kneipe in einer gottverlassenen irischen Gegend. Das allgemeine Interesse der Anwesenden entlockt ihm schließlich das „Geständnis“, daß er seinen Vater erschlagen habe und auf der Flucht sei. Er findet sofort vollstes Verständnis bei den Zuhörern, denn erstens: wer es fertigbringt, seinen Papa zu erschlagen, muß schon ein toller Mann sein, und zweitens: muß die Schuld eindeutig beim Vater liegen, denn umsonst erschlägt ja keiner seinen Papa. Diese allgemeine Anerkennung läßt den jungen Mann über sich hinauswachsen, die Frauen reißen sich um ihn, das ganze Dorf rückt an, um den tollen Kerl zu bewundern. Der Held der westlichen Welt ist geboren.
Soweit der erste Akt des wohl bekanntesten Dramas des Iren John Millington Synge: The Playboy of the Western World. Sofort wird klar: das geht ja wohl gegen alle christlichen Werte des Abendlandes, oder genauer: gegen deren Aushöhlung und damit um deren Rettung. Die Rettung aus der Bigotterie und falschen Prüderie des stockkatholischen Irland zum 1900.
Die Gläubigen selber merkten es wieder einmal nicht: Bei der Uraufführung 1907 in Dublin kam es zu einem Riesenskandal. Neben dem Ärger über den Spiegel, den Synge der irischen Gesellschaft entgegenhielt, war es vor allem das Wort „shift“ (Damenhemd), das man auf der Bühne nicht dulden wollte - bekanntermaßen der Ort des Schönen und Reinen. Der „Playboy“ entwickelt sich also vom schüchternen Jüngling zu einer bedeutenden Person im Dorf, nur weil er eine gute Mordgeschichte gut zu erzählen weiß. Niemand stört es, daß er mit jeder neuen Erwähnung seiner Tat seinen Vater noch schlimmer erschlägt: Erst saust der Spaten auf den Kopf, dann bis zur Gurgel, schließlich gleich durch bis zum Gürtel.
Synge erzählt die Geschichte des jungen Mannes als eine tragikomische Variante des Ödipus-Themas: Während bei den Griechen die Götter und das Fatum selber vonnöten sind, um einen Vatermord geschehen zu lassen und ihn dann zu sühnen, ist es bei Synge der Mitmensch, der es in der Hand hat, was aus solch einem Burschen wird. Hier und heute muß einer erst einen Mord begehen und ihn auch noch gut erzählen, damit aus ihm etwas wird. Übrigens hat ja die Geschichts- und Legendenschreibung schon immer vor allem denen die Bezeichnung „Held“ verliehen, die sich als Mörder ausgiebig profiliert hatten.
Aber das Stück ist noch nicht zu Ende: Der Vater hat den Schlag mit dem Spaten überlebt und kommt auf der Suche nach seinem flüchtigen Sohn auch in das Dorf. Die Erkenntnis, daß der Junge nur ein unschuldiger Aufschneider ist, trifft alle tief, nun richtet sich die Wut gegen das frühere Idol. So hoch er vorher gehoben wurde, so tief wird er nun gestoßen. In seiner Verzweiflung greift er erneut zum Spaten und versetzt vor aller Augen seinem Vater den vermeintlichen letzten Schlag. Nun aber kippt die Stimmung gänzlich um: Man beschließt, den Vatermörder aufzuhängen, denn: „Es besteht ein Unterschied zwischen einer romantischen Geschichte und einer schrecklichen Tat.“
Die letzte Wendung des Schauspiels, die Parodie eines Happy -ends: Papa (der sprichwörtliche irische Dickschädel) hat auch diesen Schlag überstanden, kriecht zu seinem Sohn und begreift als einziger die Wandlung seines schüchternen Sohnes zu einem neuen Menschen. Betreten und verblüfft bleiben alle übrigen zurück.
Synge, 1871 in Dublin geboren, 1909 auch dort gestorben, erwarb seine genaue Kenntnis des irischen Landvolks bei einigen Reisen zu abgelegenen irischen Inseln. Dort studierte er auf Anregung William Butler Yeats‘ Sprache und Leben der Einwohner, fand auch Stoff und Anregung für seine Stücke. So gewann er die erste Idee zum Held der westlichen Welt aus einem zeitgenössischen Kriminalfall. Bewohner einer abgelegenen Insel hatten einen Mörder so lange versteckt, bis er nach Amerika entwischen konnte.
Ganz ohne den früh verstorbenen Vater aufgewachsen, hatte er sich bald der fanatischen Frömmigkeit seiner Mutter entzogen und beschäftigte sich mit Naturwissenschaft und Musik, vor allem aber mit Literatur und Theater. „I wished to be at once Shakespeare, Beethoven and Darwin.“
Tatsächlich ist in seinen Stücken die Shakespearesche Tradition - neben der „aufklärerischen“ eines Darwin - nicht zu verkennen, was die Dialoge und die Zeichnung seiner Personen angeht. Allein der Kontrast der schrecklichen Tat und der zu Floskeln erstarrten religiösen Sprache sorgt noch 80 Jahre nach der ersten Aufführung für Gelächter.
Helmut Griem, selbst Schauspieler an den Kammerspielen in München, inszenierte dieses Stück als Theater der Schauspieler: In einer homogenen Ensembleleistung und einem realistisch gestalteten Bühnenbild konnten diese ihre Künste in die kräftig gemalten Charaktere Synges einbringen. Sicher wäre auch eine ganz andere Form der Inszenierung denkbar: voller psychologischer Zwischentöne, die menschliche Natur studierend, die Synge uns vor Augen führen will. So blieb einem das Gelächter nur selten im Hals stecken, das schauspielerische Feuerwerk verführte das Münchner Premierenpublikum mitunter zu Szenenapplaus auf offener Bühne. Saftiges Thater, keine subtile Studie. Aber man kann vielleicht nicht alles auf einmal haben.
Hans-Peter Kistner
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