„Nur der Sozialismus kann China retten“

Pekings Führung läßt sich durch die Ereignisse in Osteuropa nicht aus dem Takt bringen und stimmt auf dem Volkskongreß das hohe Lied der Ideologie an / Klare Absagen an politische und wirtschaftliche Reformen / Rigide Sparpolitik aber kein Konzept gegen Arbeitslosigkeit  ■  Aus Peking Boris Gregor

Sie kamen in langen Buskolonnen vom Pekinghotel die Straße des langen Friedens herunter zur großen Halle des Volkes über 2.700 Delegierte des Volkskongresses. Im Foyer schlürften sie Jasmintee oder drängelten sich hinter einem großen Paravant um den Postschalter: Dort verkauften Angestellte Sondermarken und weinrote Briefmarkenalben offenbar eine so große Attraktion, daß mancher Abgeordnete Amt und Würde vergaß und seinen Nebenmann mit Knuffen und Ellenbogenhebeln aus der Menge zu drücken versuchte.

Im Saal ging es gesittet zu: Eine Kapelle der Luftwaffe intonierte um neun Uhr morgens die Nationalhymne und Chinas Volksvertreter lauschten Ministerpräsident Li Pengs Rechenschaftsbericht über die Regierungsarbeit des Vorjahres. Nur Applaus und das Umblättern des Redemanuskripts unterbrachen die monotone Ansprache des Regierungschefs. Der verteidigte souverän seinen Ruf als Langweiler, doch auch wenn er es besser könnte: Regierung und die Kontrolleure sind, wie in allen übriggebliebenen sozialistischen Staaten dieser Welt, sowieso ein Herz und eine Seele.

Und wer dies nicht begriffen hatte, bekam es spätestens vor einer Woche vom Volkskongreßpräsidenten Wan Li, vor dem Juni -Massaker vorigen Jahres noch zu den Reformern gezählt, erklärt: Wir müssen „die Verbindung der Partei mit den Volksmassen“ wieder stärken.

Li Pengs Rückblick auf das vorige Jahr im mittlerweile muffigen, leicht abgeblätterten Ambiente der Volkshalle geriet zu einem Report wie aus einer anderen Welt - fernab von politischen und wirtschaftlichen Reformen, dafür aber mit Rückgriffen auf Kampagnen der sechziger Jahre, die nun wiederbelebt werden sollen. Chinas Führung werde sich nicht durch die Entwicklungen in Osteuropa irritieren lassen, wenngleich Peking „als sozialistisches Land natürlich sehr besorgt“ über das Geschehen sei, nuschelte der Ministerpräsident.

Für das Reich der Mitte gilt aber nach wie vor: „Nur der Sozialismus kann China retten.“ Wenn man nicht an diesem System festhalte - und an der führenden Rolle der KP und der „diktatorischen Rolle des Staatsapparates“ -, bleibe das Land nicht stabil, und Instabilität, gar neue Unruhen, sind naturgemäß den roten Mandarinen ein Greuel.

Offenbar um Irrtümern vorzubeugen, betonte Li Peng, bei der viel beschworenen Öffnungs- und Reformpolitik handele es sich um „Selbstvervollkommnung“ und „Weiterentwicklung“ des Sozialismus - nicht etwa um eine Ausrichtung in Richtung Demokratie.

Li Peng verteidigte die blutige Niederschlagung der Demokratiebewegung, lobte die alten Führer und die Armee. Dank ihrer Hilfe habe China einen „erschütternden Kampf und eine ernste Prüfung“ bestanden. Der Sieg über eine Handvoll konterrevolutionärer Putschisten verhinderte nach seiner Auffassung einen „großen historischen Rückschritt“ und werde vor der Geschichte Bestand haben.

Li Peng erklärte den Abgeordneten allerdings nicht, wer diese Putschisten nun eigentlich sind, und ließ auch die Tatsache aus, daß bislang noch kein Prozeß gegen die sogenannten Führer stattgefunden hat. Einer, der frühere Generalsekretär der KP, Zhao Ziyag, hatte sich für den Volkskongreß entschuldigen lassen. Der Bericht darüber in einer chinesischen Zeitung ist Indiz dafür, daß die Genossen immer noch nicht so recht wissen, ob sie Zhao anklagen sollen oder nicht.

Auch bei der Wirtschaft ließ Li Peng die alten Töne von verstärkter Preiskontrolle und den Vorzügen der Kollektivwirtschaft hören. Die Bilanz des vorigen Jahres sah, bis auf die gedrückte Inflationsrate (von über 20 auf sieben Prozent) und einer Rekordernte, gar nicht gut aus. Li Peng gestand eine Absatzflaute, den Rückgang des industriellen Wachstums und eine „steigende Zahl von Betrieben, die ihre Produktion völlig oder teilweise einstellen mußten“. Ursache ist die Politik des knappen Geldes und der knappen Kredite, mit der die KP die Preissteigerungsrate senkte. Nun werde der Staat wieder mehr Geld verpumpen und die Zinsen senken, um die Betriebe flott zu machen, versprach Li Peng - beschäftigungslose Arbeiter sind der KP offenbar noch unheimlicher als über hohe Preise murrende Bürger.

Allerdings dürfte der Erfolg dieser Maßnahme auf sich warten lassen, denn die Fabriken sind so stark untereinander verschuldet (Gesamtsumme: rund 55 Milliarden Mark), daß sie das Geld erst einmal für die Rückzahlung und nicht für neue Investitionen verwenden werden.

Kein Wort verlor der Ministerpräsident, wie seine Regierung gedenkt, das Problem der Arbeitslosigkeit zu lösen. Dafür will er das Vertrauen der Partei beim Volk restaurieren, indem er ankündigte, korrupte Kader zu bekämpfen, ihnen beispielsweise die Zweitwohnungen abzuknöpfen.

KP-Patriarch Deng Xiaoping, der in einem abgegrenzten Gelände nördlich der verbotenen Stadt lebt, wird davon wohl kaum betroffen sein - auch wenn er während dieser Volkskongreßsitzung sein letztes offizielles Amt, das des Vorsitzenden der staatlichen Militärkommission, abgibt.

Gestern hatte er sich nicht auf den Weg gemacht - sein Platz auf der Tribüne blieb leer.