: Flucht in den Haß
Rumänischer Nationalismus verhindert friedlichen Ausgleich in Siebenbürgen ■ K O M M E N T A R
Den Angehörigen der ungarischen demokratischen Opposition galt in den 70er Jahren das historische Siebenbürgen als einer der seltenen Fälle geglückter multinationaler Integration. Hier blühte im 16. und 17. Jahrhundert ein Gemeinwesen, das an religiöser und ethnischer Toleranz in Europa seinesgleichen suchte. Mit dem Sieg des romantischen Nationalismus, der für jedes Volk einen eigenen, undurchdringlichen Wesenskern in Anspruch nahm, war die Grundlage dieser Gemeinsamkeit zerstört. An die Stelle der magyarischen trat nach 1918 die rumänische nationale Großmannssucht. Das Regime Ceausescus schließlich praktizierte eine Assimilierungspolitik, von deren Brutalität die rumänischen Faschisten der dreißiger Jahre nur hätten träumen können.
Jede nationalstaatliche „Lösung“ der Minderheitenfrage im rumänischen Siebenbürgen setzte voraus, daß zwei der drei Volksgruppen - die deutsche und die ungarische - zur Auswanderung gezwungen oder assimiliert würden. Während die Siebenbürger Sachsen heim ins Reich strebten, versagten beide Rezepte gegenüber den Ungarn. Der Sturz der Ceausescu -Tyrannei eröffnete den neuen Machthabern in Rumänien den billigen Weg der nationalen Demagogie ebenso wie den beschwerlichen des nationalen Ausgleichs. Das Militärregime Iliescus schwankt zwischen den beiden Lösungen. Erst seine Schwäche und Haltlosigkeit hat der rumänischen chauvinistischen Rechten den Weg freigegeben.
Die Exzesse in Tirgu Mures sind um so entsetzlicher, als keine scheinbar unerbittliche Logik zu ihnen geführt hat. Daß die Forderungen der ungarischen Minderheit so maßvoll waren, ist nicht nur Ausdruck eines taktisch motivierten Minimalprogramms. Zwar liegt der großungarische Nationalismus keineswegs auf dem Sterbebett, aber er ist temperiert durch die vielfältigen und engen Bindungen Ungarns zum westlichen Europa, er hat sein militärisch auftrumpfendes, gewalttätiges Gepränge verloren. Aus Siebenbürgen emigrierte ungarische Politiker begnügen sich heute fast durchweg mit der Forderung nach kultureller Autonomie. Die Morde von Tirgu Mures drohen diesen zivilisatorischen Fortschritt wieder zunichte zu machen nicht nur in Siebenbürgen.
Christian Semler
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