: DDR-Volkskammer von der Stasi durchsetzt
■ Regierungsbeauftragter Fischer fordert Kommission zur Überprüfung der Abgeordneten / Zahlreiche Stasi-Leute jetzt im Dienst des BND / Bischof Forck hat Weizsäcker über das Ausmaß des Verdachts informiert / Hessen mauert bei der Aufklärung des Falls Kirchner
Ost-Berlin (ap/taz) - Die frisch gewählte Volkskammer der DDR wird von der Geschichte eingeholt. Zahlreiche der 400 soeben gewählten Abgeordneten stehen unter dem Verdacht der Spitzeltätigkeit für die Staatssicherheit. Der Regierungsbevollmächtigte für die Auflösung der Stasi, Werner Fischer, forderte deshalb am Mittwoch, sämtliche Abgeordneten sollten noch vor der ersten Sitzung des Parlaments wegen eventueller Mitarbeit bei der ehemaligen Staatssicherheit der DDR oder beim Bundesnachrichtendienst überprüft werden. Fischer schlägt eine kirchliche Kommission vor, die Einsicht in die Akten der 400 Volkskammerabgeordneten nehmen solle. „Es geht nicht darum, die Namen der Abgeordneten öffentlich zu machen, die möglicherweise Informanten des Stasi waren. Wir könnten uns vorstellen, daß die Kirche die Leute in Einzelgesprächen dazu bringt, ihr Mandat niederzulegen“, erläuterte Fischer.
Der Berliner evangelische Bischof Gottfried Forck war bereits am Mittwoch vormittag mit Bundespräsident von Weizsäcker in West-Berlin zu einem Gespräch über die Stasi -Affäre zusammengetroffen. Weizsäcker habe das Vorgehen des Bürgerkomitees befürwortet, sagte Forck. Der Bischof präsentierte der Presse in Ost-Berlin inzwischen einen Brief an alle Volkskammerparteien, in dem sie um ihr Einverständnis mit der Überprüfung gebeten werden.
Der Vorsitzende des Demokratischen Aufbruchs, Eppelmann, hat inzwischen gefordert, die Akten aller Volkskammerabgeordneten offenzulegen. Allein in Erfurt seien vier der neuen Abgeordeten Stasi-Spitzel gewesen, wußte Eppelmann der 'Bild'-Zeitung zu berichten.
Die Mitglieder des Erfurter Bürgerkomitees müssen jetzt allerdings mit einer Strafanzeige rechnen, weil sie die Öffentlichkeit auf das Problem aufmerksam gemacht haben und die Karteikarten prominenter Stasi-Informanten der Staatsanwaltschaft übergeben hatten - dabei hatten sie weder Namen genannt noch Angaben über die mögliche Anzahl verdächtiger Abgeordneter gemacht. Auch gegen einen früheren Offizier der Staatssicherheit, der im DDR-Fernsehen anonym über den Fall Schnur ausgepackt hatte, ist inzwischen Anzeige erstattet worden.
Eine Sondersitzung des Hauptausschusses des hessiches Landtags hat gestern keine Aufklärung über den Verdacht gebracht, der amtierende Generalsekretär der DDR-CDU, Martin Kirchner, sei hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter gewesen. Hessens Innenminister Milder wollte diesen Verdacht weder bestätigen noch dementieren, und eine Mehrheit von CDU und FDP beschloß daraufhin, es gebe keine rechtlich verwertbaren Hinweise gegen Kirchner.
Ve. Siehe Gastkommentar Seite 10
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