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Vom großen japanischen Kirschengeist

Alle Jahre wieder träumen die Japaner unter der Kirschblüte von grenzenloser Harmonie / Am Wochenende erwachten in Tokio die Frühlingsgefühle und trieben Tausende in die Parks / Früher regte sich der Arbeitskampf, heute die Phantasie der chemischen Industrie  ■  Von Georg Blume

„Wenn, per Zufall, ein Fremder dich fragt, wo der Geist der japanischen Inseln verborgen liegt, dann geh‘ und zeig‘ ihm die leuchtende Morgensonne und die Berge blühender Kirschbäume.„ (Motoori Norinaga, 1730 bis 1801

Jetzt blühen die Kirschen in Tokio, und man sagt: nur drei Tage lang. Von dem Zeitpunkt an, wo die ersten Blütenblätter im Winde wehen, bis der Boden rosa-weiß verschneit ist. Diese Tage muß der Fremde erwischen, um den Geist Norinagas, Wegbereiter des japanischen Nationalismus, zu entdecken. Am Wochenende war es soweit. Ein frischer Landwind wehte durch Nippons Hauptstadt. In Tokios Parks färbte sich der Himmel Blütenblatt-bunt, und viele Millionen Bürger traten zum Flanieren an.

Wie gemalt stehen da sechs Bänke unter den blühenden Kirschen im berühmten Ueno-Park. Wie alle Tage hocken hier die Obdachlosen. Doch in ihrer Mitte steht eine kleine Lautsprecheranlage. Ausgerechnet hier gibt der „Karoke„ -Gesangsverein aus dem Tokioter Stadtteil Shimbashi seine Frühlingsvorstellung. Karoke gehört zu den großen Feierabendvergnügen japanischer Angestellter. Dann singen sie in Kneipen zu bekannten Schlagern und dürfen selbst einmal der Star sein. Ein Open-Air-Konzert gibt es freilich nur zur Kirschblüte. „Tokio, oh Paradies aller Träume! Tokio, oh Stadt der Blumen!“, singt der vornehm gekleidete Karoke-Laie die alte, japanische Wirtschaftswunderweise. Ringsum scharen sich Hunderte Schaulustiger. Denn im alltäglichen Fischergewand dreht sich neben dem Feiertagssänger ein tanzender Clochard auf dem roten Teppich des Karaoke-Vereins.

Abends, im Mondschein, leuchten die Kirschblüten am hellsten. Auf dünnen Stroh- und Aluminiummatten haben sich Großfamilien, Studentengruppen und Liebespaare im Ueno-Park zur „Blumenschau“ („Hanami“) versammelt. Die begehrten Plätze unter den Bäumen haben viele schon seit dem Tag zuvor mit einer kalten Nacht im Schlafsack freigehalten. Man betrachtet die fallenden Blütenblätter, eine im ursprünglichen meditative, von Buddhisten gepflegte Tradition, die heute meist zum Saufgelage gröhlender Männer verkommt.

„Wir sind vom Lande hierher gekommen, weil die Kirschen in Tokio doch so schön sind“, erzählt die 50jährige Frau eines Elektrikers aus der Provinz. Das würden sie seit vielen Jahren so machen. Was aber bewegt die jungen Liebespaare in der Hanami-Nacht in den Ueno-Park? „Früher haben sich die Großeltern in diesen Nächten ihre große Liebe eingestanden. Das wollen wir nicht auslassen“, antwortet offenherzig eine junge Frau, die mit ihrem Freund ein winziges Stück Pappkarton teilt - die Schuhe ordentlich davor zusammengestellt.

Frühling in Japan ist jedoch kein reines Volks- und Liebesvergnügen. Millionen Zeitarbeiter mit Einjahresverträgen bangen um Lohn und Arbeitsbedingungen, wenn zum April ihr Vertrag ausläuft. Schulen und Universitäten starten ins neue Jahr. Für Schüler und Studenten beginnt die schwerste Zeit, in der man sich auf die neue Gruppe einstellen muß. Und gewöhnlich begann jetzt auch die Zeit des „shunto“, des „Frühlingskampfes“. Da machten die Gewerkschaften mobil, Hunderttausende demonstrierten für mehr Geld und bessere Arbeit, bis in die siebziger Jahre hinein. Wo steckt heute dieser Frühlingsmut?

Am Wochenende steht ein Grüppchen Eisenbahngewerkschaftler vor dem Ueno-Bahnhof von Tokio. Auf Plakaten fordern sie die Einstellung von 150 Kollegen, die mit der Bahn -Privatisierung 1986 entlassen wurden. Die Medien haben sich mit ihrer Kampagne allerdings in diesem Jahr so eingehend beschäftigt, als handele es sich hier um den traditionellen Frühlingskampf, als seien die Gewerkschaften noch nicht gänzlich verstummt. Vor dem Ueno-Bahnhof allerdings verschlägt es den Demonstranten schnell die Sprache. Per Großlautsprecher verbietet der Bahnhofschef die Kundgebung. Gleich drei Bahnhofswärter in Uniform halten mit der Videokamera auf die tapferen Gewerkschaftler. Der Arbeitskampf erweist sich als erfolglose, den Geist der Jahreszeit verfehlende Importidee aus dem Westen.

Morgen sind die Kirschbäume in Tokio wieder verblüht. „Mikka minuma no sakura kana“, sagen die Japaner. Das Leben der Kirschblüten ist kurz. So kurz wie alles Leben, heißt das für viele japanische Buddhisten. Aber gibt es ihn tatsächlich, den Geist in der Kirschblüte, den Motoori Norinaga als japanisches Naturerbe beschwört? Im Ueno-Park wachsen vielleicht 50 Kirschbäume, und Tokio hat weniger Parkfläche pro Einwohner als Paris oder New York. Das hat schlaue Unternehmer auf die Idee gebracht, Kirschblütenduft vielerorts chemisch zu produzieren. Im Duschkopf, in der Badewanne, aber auch in großen Büroräumen, im Auto und im Restaurant. Womöglich löst sich der Kirschblütenmythos bald im künstlichen Aromaduft auf.

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