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Wer in Stuttgart sucht, der findet - nichts

Die Nummer 2616446 in Stuttgart ist ständig belegt. Die Angestellten des Amtes für Wohnungswesen werden von Anrufen regelrecht malträtiert. Wer keine Wohnung findet, sucht bei ihnen Rat. In ihre Sprechstunden, dreimal die Woche, kommen regelmäßig an die 150 Wohnungssuchende. Die meisten sind verzweifelt, die Stimmung vor den Türen ist entsprechend gereizt.

„Auf dem Wohnungsmarkt bewegt sich praktisch nichts mehr“, sagt Amtsleiter Manfred Gann. 23.000 Wohnungen fehlen in der Landeshauptstadt. Nahezu 5.000 Not- und Dringlichskeitsfälle weist die Kartei aus, allein im letzten halben Jahr sind 1.000 dazugekommen. Gann zählt auf: Über die Hälfte von ihnen sind Ausländer, der Rest verteilt sich gleichmäßig auf kinderreiche Familien, Alleinerziehende sowie Aus- und Übersiedler. Rund 2.000 Wohnungssuchende hat die Stadt derzeit vorrübergehend in Hotels und Pensionen einquartiert, viele andere leben in Wohnheimen und Notunterkünften. Und noch immer treffen jede Woche rund 1.000 Aus- und Übersiedler in Stuttgart ein.

Und das ist nur die Spitze des Eisberges. Wohnungen sind in der Schwabenmetropole selbst dann kaum mehr zu bekommen, wenn man kräftig in die Tasche langt. Zwar betont die Stadtverwaltung, daß das Mietpreisniveau mit durchschnittlich rund 7,50 DM pro Quadratmeter günstiger liegt als in vergleichbaren Großstädten wie München, Frankfurt oder Köln. Die Zahlen stammen aber von 1988, ein neuer Mietspiegel wird gerade erst erstellt. Und Mietpreissteigerungen von 20 Prozent und mehr sind in Stuttgart keine Seltenheit. In den Zeitungsannoncen werden für neuvermietete Wohnungen im Schnitt schon 12 bis 15 Mark verlangt.

„Es trifft inzwischen praktisch jeden“, sagt Volker Rastätter, Geschäftsführer des Stuttgarter Mietervereins. Seit zwei Jahren steigt die Zahl organisierter Mieter deutlich an. Für Rastätter ist klar: „Schlichtweg aus Not und Angst kommen die Leute zu uns.“

25 Prozent sind schon

Eigentumswohnungen

Wer keine Wohnung findet und es sich leisten kann, kauft seine eigene Bude. Zahlungswillige Interessenten, die in der prosperierenden Region stattliche Gehälter kassieren, gibt es mehr als genug. Die Topverdiener schlagen zu - trotz der höchsten Immobilienpreise in der ganzen Republik. Rund ein Viertel der insgesamt knapp 270.000 Wohneinheiten sind inzwischen Eigentumswohnungen. Pro Jahr werden etwa 1.500 Mietwohnungen in Eigentumswohnungen umgewandelt, schätzt der Mieterverein.

Die Haus- und Grundstücksbesitzer sehen das freilich anders. Sie beklagen lauthals die Hemmnisse bei der Umwandlung von Mietwohnungen, bei Modernisierungsmaßnahmen und beim Wohnungsneubau. Milliardenprogramme für den Wohnungsbau halten sie für überzogen. „In Stuttgart sind 95 Prozent der Bürger mit einer Wohnung gut versorgt und nur fünf Prozent nicht - das sind die Relationen“, jedenfalls für Karl Lang, CDU-Wohnungspolitiker im Landtag.

Doch wer bislang die angeblichen „Horrorvisionen“ von den 20.000 fehlenden Wohneinheiten nicht glauben wollte, hat es nun auch schwarz auf weiß - in einem Bericht über den Stuttgarter Wohnungsmarkt, den fleißige Stadtstatistiker auf der Grundlage der Volkszählungsergebnisse zusammengetragen haben. Für 20 Mark Schutzgebühr läßt sich auch nachlesen, was die Ursachen der Wohnungsnot in der Schwaben-Metropole sind. Einen Grund sehen die Statistiker in dem steigenden Wohnraumbedarf: in fast der Hälfte aller Haushalte lebt nur eine Person auf durchschittlich 55 Quadratmetern. Rein rechnerisch kommen auf jeden Stuttgarter Bürger 35 Quadratmeter Wohnraum, das sind 10 mehr als vor zwei Jahrzehnten.

Eine weitere Ursache: Der Anteil der Sozialwohnungen am Wohnungsbestand ist deutlich gesunken - auf ganze 14 Pozent. Lediglich 2.240 Sozialwohnungen sind zwischen 1968 und 1987 unterm Strich hinzugekommen - und das, obwohl allein die Stadt seit 1978 mit rund einer Milliarde Mark den Bau von fast 8.000 Sozialwohnungen gefördert hat. Durch den Wegfall der Sozialbindung anderer Wohnungen ist der Zuwachs zum größten Teil wieder verlorengegangen.

Hinzu kommt, daß etwa 5.500 Wohnungen in Stuttgart leerstehen. Die Dunkelziffer dürfte noch weit höher liegen, denn der „wohlstandsbedingte Leerstand“ wurde nicht erfaßt, wie der städtische Chef-Statistiker Joachim Eicken zugibt. In vielen Eigenheimen bleiben Einliegerwohnungen und ausgebauten Dachgeschosse, mit denen erhebliche Steuerbegünstigungen erzielt werden konnten, ungenutzt. Die Landesregierung hat denjenigen Prämien bis zu 5.000 Mark in Aussicht gestellt, die leerstehende Wohnungen befristet vermieten. In Stuttgart aber „zieht das nicht“, sagt Manfred Gann, bisher hat sich kein einziger Vermieter bereit gefunden.

Oberbürgermeister Manfred Rommel, Vorsitzender des Städtetages, verlangt seit langem weit drastischere Maßnahmen: Vermieter sollen für ungenutzen Wohnraum so viel bezahlen müssen, wie sie Miete kassieren könnten. Doch in Rommels eigener Kommune werde nicht einmal das Zweckentfremdungsverbot konsequent angewandt, kritisiert Volker Rastätter vom Mieterbund die Stuttgarter Stadtverwaltung.

„Bauen, bauen,

und nochmals bauen“

„Daß Wohnungen fehlen, habe ich schon immer gesagt“, meint Wirtschaftsbürgermeister Rolf Lehmann, der sich durch das jüngste Zahlenwerk seiner Hausstatistiker bestätigt sieht. Er drängt auf Konsequenzen, denn „da nützen alle Papiere und Erklärungen nichts“. Und die erste Konsequenz lautet: bauen, bauen und nochmals bauen. Lehmann hatte bereits im Januar zur Finanzierung beim Ministerpräsidenten Späth einen Scheck angemahnt - „statt ständiger Versprechungen“. Schließlich fließen bereits ein Viertel der städtischen Investitionen in den Bereich Wohnen - im letzten Jahr über 200 Millionen Mark. Und mit einem beachtlich aufgestockten Wohnungsbauprogramm im Umfang von jährlich knapp 50 Mio. Mark will die Stadt in den nächsten vier Jahren über 3.000 neue Sozialwohnungen bauen - vorausgesetzt, man findet Platz für sie.

Oberbürgermeister Rommel setzt auf seine Baulücken - auf den 90 Hektar könne man 5.000 Wohnungen schaffen. Die Stadt hat dabei auch ein Auge auf Gelände im Bundesbesitz geworfen. Doch die Kassenmeister im Bonner Finanzministerium und beim Bundesvermögensamt gehen nicht gerade freigebig mit ihrem Grundbesitz um, im Gegenteil: Sie wollen nach dem „Verkehrswert“ ordentlich verdienen. Trotz zäher Verhandlungen waren sie zunächst nicht bereit, der Stadt mehr als 15 Prozent „Rabbat“ für zwei innerstädtische Vorhaben einzuräumen - und das bei Quadratmeterpreisen von 720 und 940 Mark. Für das Brachland zwischen Kornwestheim und Stuttgart, wo mindestens 2.000 Wohnungen entstehen sollen, verlangte der Bund stolze Baulandpreise.

Lange sah es so aus, als würde das Projekt an den unannehmbaren Preisvorstellungen des Bundes platzen, bevor sich Mitte Februar Ministerpräsident Späth und Finanzminister Waigel im Spitzengespräch auf 200 Mark pro Quadratmeter für das 35 Hektar große Gebiet einigten. Nun stößt das Projekt auf massiven Widerstand der Mühlhausener Bauern, die die Existenz ihrer Höfe gefährdet sehen, denen schrittweise der gute Boden entzogen wird.

Die Wohnungsbaupläne haben auch die Architekten auf den Plan gerufen. Als jüngst die Modelle des ersten Stuttgarter Wolkenkratzers, eines 130 Meter hohen Bürohauses der Landesentwicklungsgesellschaft präsentiert wurden, erhob die Architektenkammer schäfsten Protest. Bei den Neubauvorhaben warnt sie davor, billig und schnell neue Ghettos hochzuziehen, in denen die Wohnqualität eine untergeordnete Rolle spielt.

Das „größte städtische Programm zum Sozialwohnungsbau“ (Rommel) droht, zwischen den divergierenden Interessen zerrieben zu werden. Der Wohnungsbaustreit geht derweil weiter. Rommel verlangt mehr Geld vom Staat und droht mit allerlei Zwangsmaßnahmen: etwa mit dem Abholzen von Wald zur Grundstücksbeschaffung oder Baugeboten gegen Bodenspekulanten. CDU-Wohnungsbauexperte Karl Lang hat da allerdings eine viel einfachere Lösung parat: „Es müssen doch“, sagt er, „nicht alle im Ballungsraum wohnen.“

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