: Ich muß leise sein
■ Zur Reinhard Mucha-Ausstellung in Krefeld
Bilder? Eigentlich sind es bloß mit grauem Filz ausgelegte und - wie ein Schrein - in Alurahmen eingefaßte Vitrinen, in denen Mucha seine Materialien einbettet.
Die Ausstellung im Krefelder Museum Haus Esters beginnt mit einem Foto von einem Strampelhosen-Baby auf der Decke, die mit Harlekinen und Enten verziert ist. Der Rock der Mutter und ihr Ehering an der rechten Hand sind noch im Anschnitt zu sehen, sonst konzentriert sich alles auf das Kind - Mucha im Mittelpunkt. Achtundzwanzigmal wiederholt sich - zum strengen Ritual kultiviert - diese Familienalben-Idylle, bis das letzte Motiv den Bild für Bild um ein Jahr Gealterten als Dreißigjährigen entläßt - eine Sozialstation eben wie im Bilderbuch.
Während das Heranwachsen so plakativ wie ausführlich dargestellt ist, verharrt die geistige Entwicklung auf dem Niveau eines Grundschülers der dritten oder vierten Klasse. In jeder Vitrine hängen neben den Fotografien eingerahmte Schulaufsätze, Strafarbeiten zumeist, die dem renitenten Lausbuben abverlangt wurden. Reinhard Mucha muß ein Zappelphilipp mit enormer Lautstärke gewesen sein, denn immer wieder tauchen Sätze auf wie diese: „Ich muß leise sein.“ Oder: „Ich muß mich nach dem Schellen ordentlich aufstellen.“
Der Künstler nennt seine biographische Bildgeschichte Kopfdiktate, eine Anspielung auf jene besondere Marter verbiesterter Grundschullehrer, die Schüler damit zu quälen, am darauffolgenden Morgen das tags zuvor Gelesene aus dem Gedächtnis niederzuschreiben. Sind schon die Kopfdiktate Ausdruck einer autoritären Bevormundung, so wirken die endlosen Satzschleifen der Strafarbeiten wie eine besonders quälende Form der Folter. Muchas Schulhefte müssen voll davon gewesen sein, denn für jeden Hochglanzabzug seiner Biographie hat er eine andere Seite in Schönschrift gefunden, die die stupide Regelmäßigkeit der Strafarbeit -Dressur dokumentiert.
Ist Mucha also einer, der sich Befehl und Gehorsam von Kind auf verweigert hat? Ein Künstler, der schon als Schüler lernte, sein Inneres gegen den Druck der Konformität abzuschirmen? Die Bildkästen Muchas geben darüber keine Auskunft. Die Fotos, die doch eine private Atmosphäre vorgaukeln, erweisen sich als das, was Fotos immer sind reine Oberfläche. Abzüge einer Welt, die diesem und jenem oder eben Muchas Fotoalbum entnommen sein könnten. Intimität in der Beliebigkeit. Das Werk Muchas bleibt trotz der Offenheit hermetisch verschlossen. Das ist seine Technik und vielleicht auch die Erklärung dafür, warum Mucha vor allem in den Köpfen der Ausstellungsmacher, nicht aber in denen der Ausstellungsbesucher präsent ist.
Reinhard Mucha ist ein Künstler, vor dem die Profis des Kunst-Showgeschäfts den Hut ziehen und endlich frohlocken können: „Das ist unser Mann.“ Der Ausstellungsmacher Harald Szeemann hält ihn für den Größten nach Beuys, wer ihn nicht einlädt, gilt nichts in der Szene, und niemand nimmt dem in Düsseldorf lebenden Künstler übel, wenn er einfach die Veranstalter der letzten 'documenta‘ düpiert, indem er im letzten Moment absagt.
Daß Mucha für seine Bilder inzwischen üppige Preise erzielen kann, weil ihm die Galerien zu Füßen liegen, steigert sich noch durch seine extreme Zurückhaltung. Im Gegensatz zu dem extrovertierten Typus des Verkaufskünstlers entzieht er sich dem Rummel des Kunstmarktes. Nie käme er auf die Idee, von Messe zu Messe, von TV-Auftritt zu TV -Auftitt zu eilen, um durch das andauernde Sich-Zeigen wichtig zu wirken. Reinhard Mucha beweist, daß der gegenteilige Weg genauso vielversprechend ist. Er liebt die Abwesenheit des Künstlers und die seiner Kunst in der Öffentlichkeit.
Krefeld bietet im deutschsprachigen Raum erst die dritte Gelegenheit, ihn außerhalb von Gruppenausstellungen kennenzulernen. Reinhard Mucha ist ein Phantom. Aber eines, auf das man neugierig wird nach dieser biographischen Ausstelllung und Lust auf mehr verspürt. Wer ihn in diesem Jahr sehen will, muß schon nach Venedig zur Biennale reisen. Dort vertritt Mucha mit dem Fotografenehepaar Bernhard und Hilla Becker die bundesrepublikanische Kunstszene.
Die Ausstellung Kopfdiktate war zum ersten Mal vor zehn Jahren zu sehen; damals wurde sie in einer Wuppertaler Privatgalerie am 19. Februar zu seinem 30. Lebensjahr eröffnet. Auch die Wiederholung der biographischen Bilderschau mußte warten, bis sich erneut ein runder Geburstag ergab. Wenn Mucha sie noch einmal zeigt, dann auch aus dem Grund, weil die zehn Jahre zwischen den Terminen viel verändert haben. Damals konnte man Muchas Darstellung der Diktat-Tortur als allgemeinen Aufruf interpretieren, sich niemals einer Autorität zu ergeben. Jetzt kann der Betrachter nachvollziehen, daß Mucha sich dieses Motto selbst zur Maxieme seiner Entwicklung gemacht hat: die konsequente Weigerung, gängigen Trends in der Malerei nachzueifern und stattdessen vorgefundene Gegenstände neu zu arrangieren. Der Stoff, aus dem seine Kunstwerke sind, ist alltäglich. So alltäglich, daß es keine Kunst zu sein scheint. Und gerade darin liegt die Fähigkeit Reinhard Muchas, es so aussehen zu lassen, als wäre alles ein Kinderspiel.
Beim Rundgang durch die schlichten, funktionalen Räume des
-von Mies van der Rohe entworfenen - Museums entsteht am Schluß doch noch eine kleine Verunsicherung. Im letzten Raum lehnt ein Tretroller gegen eine Stuhlpyramide, unscheinbarer noch verstecken sich ein paar Kinderschuhe vor der Abdeckung der Heizung. Schon 1980 war der Roller die letzte Station auf dem Weg durch Muchas Ausstellung. Aber wer hat ihn hier so achtlos abgestellt. War es Mucha selbst, in einer Abwandlung seiner Konzeption? Oder war es die Putzfrau, die die Stühle übereinander stapelte und den Roller dazwischen einklemmte, als sie aufwischen mußte? Die Besucher der Ausstellung machen sich ihren eigenen Reim darauf und würdigen das seltsame Ensemble nur eines flüchtigen Blickes. Da ist kein Rahmen drum herum. Das kann keine Kunst sein.
Christof Boy
Reinhard Mucha: Kopfdiktate. Museum Haus Lange/Haus Esters, Krefeld. Bis 1. April. Katalog noch nicht erschienen.
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