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Zeit der Abrechnung - Zeit der Reife?

Plauderei bei einer Ballnacht in Smichov / Die„Brünner Affäre“ polarisiert die öffentliche Meinung in der Tschechoslowakei / Rausschmeißen oder Integrieren - am Beispiel der Nachrichtenagentur 'ctk‘ / Probleme der Neuorientierung für die Underground-Presse / Hat die KPC noch eine Überlebenschance?  ■  Von Christian Semler

Das Kulturhaus in Prag-Smichov ist ein ehrwürdiger Ort der tschechischen Arbeiterbewegung. Gut bürgerlich ging es dort immer zu, auch als in den zwanziger Jahren die Kommunisten die prachtvolle Eingangstreppe hochstiegen, um dann im Versammlungssaal die bourgeoise Demokratie Masaryks zu verdammen. Gut bürgerlich ist auch die Stimmung beim ersten Ball, zu dem das Prager Bürgerforum geladen hat - die Herren im schwarzen Anzug, die Damen in allem, was Phantasie und westliche Modejournale nicht ganz neuen Datums hergeben.

Ein glücklicher Zufall verschlägt mich an den Tisch, wo Smichover Aktivisten der ersten Stunde des Novemberumsturzes zusammensitzen. Ein Architekt, jetzt kooptierter Bezirksverordneter, eine Germanistin, die weder Lehrerin ist noch so aussieht, mehrere Oberschüler. Ohne sie läuft nichts in Smichov, aber mit ihnen auch nicht viel. Der Architekt beklagt, daß selbst eine Bestandsaufnahme der Probleme unmöglich sei, weil verwertbare Unterlagen fehlen. Auch über Geld kann der Bezirk nicht selbständig verfügen - noch hat die Prager Zentrale den Kassenschlüssel.

Melancholie wird spürbar: Wo sind die vielen geblieben, die im November tatsächlich alle mit dem Schlüsselbund in der Hand die Sterbestunde des Regimes einläuteten? Ein vorübergehend verstummtes Mißtrauen gegen die „Massen“ kommt wieder zur Sprache: „Die Millionen, die jetzt 'Es lebe Havel!‘ schreien, haben sie denn den Mund aufgekriegt, als er im Januar 1989 ein letztes Mal ins Loch mußte?“ Als es um Havels Präsidentschaftskandidatur ging, haben sich da nicht viele Leute besorgt gefragt, ob es denn richtig sei, jemandem das höchste Staatsamt anzuvertrauen, der - wenn auch aus politischen Gründen - schon einmal im Gefängnis gesessen hat?

Was soll nur werden, wenn das Engagement der Bürger weiter nachläßt, während sich der Block der Kommunisten wieder konsolidiert und nach wie vor Betriebe und Verwaltungen kontrolliert? „Man muß sie allesamt rausschmeißen, oder die Demokratisierung hat ein Ende.“ „Was soll diese Hexenjagd“, frage ich irritiert, „ihr könntet eure Energien etwas konstruktiver einsetzen!“ Darauf die Germanistin: „Nach meiner Meinung werden bei weitem nicht genug Hexen und Hexenmeister gejagt. Wer im kommunistischen Apparat einen Job hatte, der hat andere unterdrückt und ausgeplündert - 40 Jahre lang. Ohne Säuberung geht's nicht“.

Dieser antikommunistische Radikalismus hat sich in Böhmen seit Anfang des Jahres rasant ausgebreitet - im Gegensatz zum polnischen August 1980 setzt er jedoch keine produktiven Energien frei. Er klagt nur an. Ein Beispiel ist die Auseinandersetzung im Brünner Bürgerforum, die gegenwärtig die demokratische Öffentlichkeit des Landes polarisiert. Jaroslaw Sabata, einst Reformkommunist, dann Mitbegründer der Charta 77 und langjähriger Gefangener des Regimes, hatte sich dafür eingesetzt, den Bürgermeister von Brünn, KP -Mitglied und ein tüchtiger Verwaltungsmann, vorläufig im Amt zu belassen. Sabatas Gegenspieler in dieser Frage ist Peter Cibulka, der ebenfalls mehrfach im Gefängnis war. Er hat sich um die Verbreitung verbotener Musik im „zweiten Umlauf“ verdient gemacht und wurde so zu einer der Berühmtheiten des Underground.

Auf der ersten Vollversammlung aller Chartisten im Prager Gesellschaftshaus kommt es vor über tausend Teilnehmern zum Eklat. Für Cibulka, der streng, in sich gekehrt, fast ohne Augenmerk auf das Publikum spricht, handelt es sich um eine Prinzipienfrage. Werden über die Köpfe der Novemberrevolutionäre hinweg Kompromisse mit dem einstigen „Terrorregime“ geschlossen? Dirigiert und manipuliert Sabata das Brünner Bürgerforum nach Art der Totalitären? Sabata klagt seinerseits den Extremismus an, weist auf die demokratischen Entscheidungsstrukturen im Brünner „Snjem“, dem Bürgerparlament hin, verteidigt die Notwendigkeit von Kompromissen. Ihm machen die Attacken schwer zu schaffen, die „Sabata Raus!„-Parolen an den Mauern Brünns.

Der Beifall im Smetana-Saal verteilt sich gleichmäßig auf die Kontrahenten. Vaclav Maly, Ex-Heizer und jetzt wieder Priester in einer Prager Gemeinde, fordert Cibulka und Sabata auf, sich die Hand zu geben. Die Chartisten springen auf. Wird dem von allen geliebten Maly gelingen, woran selbst Havel scheiterte? Er schafft es nicht. Die Unerbittlichkeit triumphiert.

Auch Peter Uhl, unter dem Regime der „Normalisierung“ an die neun Jahre im Gefängnis und jetzt Generaldirektor der tschechoslowakischen Nachrichtenagentur 'ctk‘, sieht sich in der 'Lidove Noviny‘ (der neuen demokratischen Tageszeitung mit einer Auflage von über 500.000) als Appeaser gebrandmarkt, weil er den nötigen Elan beim Rausschmiß der Lügner und Verschweiger vermissen lasse. Uhl, langjähriger Menschenrechtsaktivist und immer noch unverdrossen Anhänger eines revolutionären Marxismus, hat sich für seinen Job ein paar handfeste Maximen zurechtgelegt. Nur wer direkt und nachweisbar für Entlassungen nach der Niederschlagung des Prager Frühlings verantwortlich war oder wer Kollegen an die Sicherheitspolizei denunziert hat, fliegt raus.

Nachdem der Generaldirektor und einige weitere Chefs ihren Hut genommen haben, steht bei 1.700 Beschäftigten nur noch in zwölf Fällen die Weiterbeschäftigung zur Debatte. Unterstützt von der Untersuchungskommission beim Innenministerium, wird Uhl auch hier bald eine Entscheidung treffen.

Wie soll die Nachrichtenagentur aber künftig strukturiert sein, um journalistische Unabhängigkeit zu sichern? Uhl nennt drei Problemebenen. 'ctk‘ wird weiterhin Staatsagentur sein, d.h. auch Regierungsinformationen veröffentlichen, der Einfluß der Regierung wird sich aber darauf beschränken, daß sie das Recht hat, bei „empfindlichen“ Informationen vor der Veröffentlichung einen Kommentar abzugeben. Die gesamte Agentur soll fortan unabhängig vom öffentlichen Haushalt auf eigene Rechnung wirtschaften. Schließlich werden die einzelnen Abteilungen - Redaktionen, Bilddienste - autonom. Uhl ist zuversichtlich, schließlich ist er ein alter Partisan der Selbstverwaltung - und seine Mitarbeiter beginnen erleichtert aufzuatmen.

Wie finden sich die „Macher“ von Zeitungen und Zeitschriften des „zweiten Umlaufs“, die aus dem Untergrund aufgetaucht sind, in der neuen, polarisierten Situation zurecht? Werden diese Redaktionen ihre kritische Unabhängigkeit auch dann bewahren können, wenn der Konformismus nicht vom Staat erzwungen, sondern ein Produkt des gesellschaftlichen Lebens ist?

Angelockt durch die „Respekt!„-Rufe der Kolporteure besuche ich die soeben gegründete Zeitschrift gleichen Namens. Das Layout ist knallig, die Schriftzeichen groß. 'Respekt‘ wurde von Mitarbeitern der Underground-Zeitschriften 'Revolver -Revue‘ und 'Sport‘ gegründet. Ihr Credo: Kein politisches Richtungsblatt, sondern „Authentizität“ und die Bearbeitung möglichst konkreter Probleme. Jeder, auch ein Kommunist könne publizieren, wenn er etwas mitzuteilen habe. In der ersten Nummer wird ein Ärztestreik als unethisch verurteilt und gleichzeitig für die bislang rechtlosen Zigeuner gestritten. Eine unkonventionelle Rechts/Links-Kombination.

Was bewegt den 'Respekt'-Redakteur Petracek in diesen Tagen? Daß der Staatssicherheitsdienst aus der öffentlichen Diskussion ist, daß viele seiner Funktionäre nicht enttarnt wurden, daß sie ein Comeback wagen könnten. Da ist sie wieder, die Angst und die Frustration angesichts eines ungreifbar gewordenen Feindes.

Eigentlich ist diese Angst nicht ganz begreifbar. Wenn das Bürgerforum auch nicht mehr so beliebt ist wie im November, es bleibt doch die mit Abstand stärkste politische Kraft und da ist noch Vaclav Havel, der „Herr Präsident“, der sich anschickt, die Nachfolge des Staatsgründers Thomas G.Masaryk anzutreten. Der alte Masaryk blickt sorgenvoll - wie aus dem Jenseits - aus den Schaufenstern zahlloser Geschäfte auf sein vorübereilendes Staatsvolk. Seine allgegenwärtige Präsenz verstärkt noch die Autorität, die Havel zugewachsen ist.

Professor Hejdanek, Philosoph und Charta-Initiator, mit dem ich ein paar Gläschen leere, ist allerdings strikt dagegen, von einer Art zivilem Führerkult um Havel zu sprechen. Havel, sagt er, führt überhaupt nicht, er gibt Kommentare ab, interpretiert Probleme, fordert die Leute moralisch heraus. Darin gleiche er Weizsäcker. Tatsächlich hat Havel mit seinen Reflexionen über die Vertreibung der Böhmendeutschen nach 1945 die Tschechen tief aufgewühlt. Mit seinem Nonkonformismus sucht er sich der Verehrung, der Entrückung zu entziehen, deren Opfer er doch immer mehr wird.

Für Hejdanek, aber auch für andere Freunde, mit denen ich sprach, liegt das Problem der Demokratie in der konstitutionellen Schwäche des Bürgerforums. In einem historisch glücklichen Augenblick hatten sich hier die Prager oppositionelle Intelligenz und eine spontane Volksbewegung vereinigt. Die Gruppen, die den alles entscheidenden Generalstreik gegen das Regime organisiert hatten, bildeten landesweit die „Basis“ des Forums. Örtliche Bürgerparlamente und deren Exekutiven traten an die Stelle der realsozialistischen Machtstruktur oder kontrollierten sie. Von Anfang an waren Auseinandersetzungen zwischen der übermächtigen Prager Zentrale und deren Leitung, dem „Auge Gottes“, vorgezeichnet. Mit dem Kompromiß, bei den Wahlen die Kandidaten in den Wahlkreisen dezentral aufzustellen, aber einen nationalen „Pool“ zu 50 Prozent zu berücksichtigen, können diese Probleme kleingearbeitet werden.

Schwerer wiegt, daß die fähigsten Leute in den Staatsapparat abgezogen worden sind. Der Rest „oszilliert“, wie Hejdanek sagt, während die örtlichen Foren, ausgezehrt und mit stark fluktuierender Mitgliedschaft, kaum zur Mitarbeit einladen. Das größte Problem aber ist, daß die Aktivisten des Forums nur durch die gemeinsame Revolution und ihre demokratischen Grundüberzeugungen miteinander verbunden sind. Dieses Band ist zu schwach für die Durchsetzung einschneidender Maßnahmen im ökonomischen und sozialen Bereich, derer das Land bedürfte. Alles wird auf die Zeit nach den Wahlen hinausgeschoben. Das Band ist aber stark genug, um zu verhindern, daß andere demokratische Parteien sich organisatorisch stabilisieren. Bis auf die Grünen, die enormen Zulauf haben, und die konservative Agrarpartei führen die sozial- und christdemokratischen Parteien außerhalb des Forums eine Randexistenz.

„Sie liegt in Trümmern“, meint Milos Hajek, der Vorsitzende der „Obroda“, in der sich ehemalige Reformkommunisten und linke Sozialdemokraten sammeln. Den Ex-Reformkommunisten ist klar, daß sie im November ihre letzte Chance verspielt haben. Von den sozialdemokratischen Parteiinitiativen werden sie geschnitten, und mit dem „Demokratischen Forum“ innerhalb der KP arbeiten sie - noch? - nicht zusammen. Hajek sieht im „Demokratischen Forum“ interessante Intellektuelle organisiert, ehrliche Demokraten, die freilich nur ein Fünftel der Mitgliedschaft der KP vertreten. Sie könnten den Kern einer neuen sozialistischen Partei bilden. Und der „Rest“ - immerhin über eine halbe Million? Ein kleiner Teil wird als Sekte auf bessere Zeiten warten. Die meisten würden gerne neuen Herren dienen, wenn nicht der Haß und das Mißtrauen des Volkes sie in eine Angstgemeinschaft zwingen würde - zum Schaden einer stabilen demokratischen Entwicklung.

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