: DIE VOGELNOTE
■ „Musika“ - Aufführung musikbezogener Werke Geisteskranker
Es sind Blätter mit unterschiedlichen musikalischen Bezügen: Von Bildern in der herkömmlichen Notenschrift bis hin zu völlig neuen Schriften, graphischen Kompositionen oder Textbildern. Meist vermischen sich Text, Bild, Klänge oder Geräusche, in einigen Fällen kommen auch Theatermittel hinzu. Diese Grenzüberschreitung haben die musikbezogenen Arbeiten aus den Sammlungen Pesc (Ungarn) und aus der Prinzhornsammlung, die im Haus am Kleistpark ausgestellt werden, gemein mit vielen Entwicklungen der experimentellen Musik dieses Jahrhunderts: z.B. den Versuchen des Bruitismus, Alltagsgeräusche als Musik aufzufassen und zu organisieren, oder den dadaistischen Varianten der Aktionsmusik, bis hin zu der uns völlig geläufigen Form der Performance, die Elemente von Schauspiel, Tanz, Rezitation mit musikalischen und bildnerischen mischt. Bezeichnenderweise lautet das Urteil des konservativen Kunstfreundes über derlei Entgleisungen, das alles entspringe einem „kranken Hirn“.
Matthias Osterwold vom Verein „Freunde Guter Musik Berlin“ hatte Komponisten und Musiker aufgefordert, sich mit den Arbeiten der Ausstellung auseinanderzusetzen, und stellte ihnen dabei sowohl Auswahl als auch Interpretation völlig frei.
Bei den Blättern, die die herkömmliche Notenschrift oder ihr Verwandtes gebrauchen, ist der musikalische Zusammenhang noch einfach ersichtlich. Else Blankenhorns Lieder z.B. lassen sich relativ direkt lesen. Dementsprechend „textgetreu“ interpretierten Gabriele Mittelsdorf und Olaf Joksch (in der Bearbeitung von Philipp Siefert) wie auch das BICE (Berlin Improvising Composers‘ Ensemble). Schwieriger liegt der Fall schon bei rhythmisch oder nur rein ornamental angeordneten Figuren: Graphik oder musikalische Komposition? Weiter führt da die Vorstellung der fließenden Durchdringung der Kunstformen, der Synästhesie, des Zusammenklangs. Die Arbeit des schizophrenen Musiktheoretikers J.V., eines vorgebildeten Profis also, läßt sich zumindest eindeutig als graphische Komposition lesen, wie sie in der experimentellen Musik üblich ist. So erklang bei deren Interpretation durch die Herren Johansson/von Schlippenbach/Fuchs improvisierte neue Musik in ganz geläufigem Sinne.
Wie aber Werke in Musik umsetzen, die sich ganz bewußt herkömmlicher Sprache und Schrift entziehen, den Boden gemeinsamer Kommunikation verlassen haben, sei es freiwillig oder unfreiwillig? Lorenz Mathias Seitz benutzt z.B. eine Art Keilschrift, deren Zeichen er selbst entwickelt hat und deren Bedeutung wohl nur er selbst kennt. In seiner Interpretation löste der Schwede Swen-Ake Johansson das Dilemma, indem er auf eine mögliche Entschlüsselung von vornherein verzichtet. Er nahm die Zeichen als direkte choreographische Anleitungen für ein Stück mit zwei Becken. Ob sich der Schöpfer Seitz über diese Umsetzung seiner Sprache gefreut hätte, muß offen bleiben.
Anders verfuhr das BICE bei den „oiseaux electriques“ von K.D. Dieser Patient litt unter akustischen Halluzinationen mit politischem Inhalt. Er hatte ein System entwickelt, wie aus der zufälligen Anordnung der Vögel auf Telegraphendrähten bestimmte Volkslieder abzuleiten seien, die er kannte. Diese Vogelgruppen malte er auf Notenlinien. Das BICE wagte eine Deutung, tauchte ein in die unbekannte Vorstellungswelt des K.D.: konkret klangmalerisch mit Vogelstimmen wie auch abstrakt die Vögel auf den Notenlinien als Schrift nehmend. Da sich die Vogelzeichen einer festgelegten Bedeutung verschließen, besitzt jede Interpretation ihre eigene Wahrheit.
Gänzlich frei und assoziativ ging der Kölner Manos Tsangaris mit dem Werk des Hyacinth Freiherrn von Wieser um. Wieser entwickelt in seinen Heften ganze Kosmogonien, graphisch-mathematische Darstellungen von Emotionen, ein eigenes System seiner Weltsicht, seiner Welt. In einem Raumspiel, das mit bewegten Lichtquellen, Geräuschen, Rhythmen und Texten arbeitete, suggerierte Tsangaris eine ganze Innen/Außenwelt, eine der möglichen Welten des Freiherrn von Wieser.
War der eine gekommen mit einer dunklen Erwartung von etwas Unbestimmtem, aber sicherlich ungemein Wildem, der andere vielleicht mit dem Wunsch, einen kurzen Blick über die Mauer nach drüben zu riskieren, ins gefährliche Jenseits, in dem unsere Konstitution von Vernunft, Denken und Wohlverhalten nicht mehr gilt, ein dritter wollte vielleicht gourmethaft seine eigene Existenz mit fremdem Wahnsinn steigern - sei's drum. Beide Konzerte waren hoffnungslos überfüllt, was sonst bei Veranstaltungen neuer Musik absolut unüblich ist: Das Thema „Kreativität und Wahnsinn“ hat seinen eigenen Sog.
Wolfgang Böhmer
Die Konzerte werden dank der großen Nachfrage zu einem späteren Zeitpunkt wiederholt.
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