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„Entstasifizierung jetzt!“

Zehntausende demonstrierten gegen Stasi-Abgeordnete in der Volkskammer / Gegen Generalamnestie / DemonstrantInnen des Frühherbstes wieder auf der Straße / Gegen Auflösung der Bügerkomitees / PDS-Vorsitzender Gregor Gysi diesmal nicht wohlgelitten  ■  Von Gerd Rosenkranz

Ost-Berlin (taz) - An diesem Konflikt, rief Wolfgang Templin von der Initiative Frieden und Menschenrechte ins Mikrofon, an diesem Konflikt werde sich entscheiden: „Kriegen wir eine Demokratie oder kriegen wir keine“. Templin traf damit wohl am präzisesten die Motivlage der Zehntausenden von Menschen, die sich am Donnerstag abend in Ost-Berlin, Leipzig, Erfurt und anderen Städten der DDR an Demonstrationen gegen eine „Stasi-Fraktion in der Volkskammer“ beteiligten. Zu den ersten Kundgebungen nach der Wahl waren in erstaunlicher Zahl vor allem jene zusammengeströmt, die in den Wochen vor der Wahl fast völlig aus dem Straßenbild verschwunden waren: Oppositionelle der ersten Stunde, Anhänger des Bündnisses 90, der Grünen und der SPD.

Vor der Volkskammer in Ost-Berlin verlangten die DemonstrantInnen die Überprüfung aller neugewählten Abgeordneten auf ihre eventuelle Stasi-Vergangenheit: „Entstasifizierung jetzt“, war auf den Pappschildern zu lesen. Und: „Wenn wir jetzt verstummen, sind wir bald die Dummen.“

Templin betonte, es sei kein Zufall, daß CDU und PDS, verbunden durch eine 40jährige „gemeinsame Apparat -Vergangenheit“, sich heute in der Überprüfungsfrage „zögernd oder ablehnend“ verhielten. Sebastian Pflugbeil, Noch-Minister des Neuen Forums, und Marion Seelig von der Vereinigten Linken warnten vor „erpreßbaren Volkskammerabgeordneten“ und einer erpreßbaren Regierung. Eine Fernsteuerung belasteter Abgeordneter oder Regierungsmitglieder durch ehemalige Stasi-Offiziere sei vorprogrammiert, wenn man sich heute auf eine Generalamnestie verständige. „Ohne Aufarbeitung der Vergangenheit werden wir an der Zukunft zerbrechen“, sagte Pflugbeil und erinnerte an die Behandlung der Systemkritiker bis zum vergangenen Herbst. Es dürften auch nicht Lehrer, Richter oder Staatsanwälte auf ihren Posten bleiben, die „uns noch vor einem halben Jahr in Isolierungslager geschickt hätten“. Eine Vertreterin des Neuen Forums aus Frankfurt an der Oder erinnerte daran, daß von der Stasi jahrelang drangsalierte Menschen auch heute noch Angst hätten, sich öffentlich zu äußern, weil dieselben Leute immer noch als „Generaldirektoren und Schulräte“ fungierten.

Reinhard Schult, ebenfalls Vertreter des Neuen Forums, erinnerte daran, daß nicht etwa eine Hungerrevolte den Umbruch in der DDR ausgelöst habe, sondern der „Schrei nach Gerechtigkeit und Freiheit“. Zwar heiße es jetzt, erst komme das Fressen, dann die Moral. Tatsächlich gehe es jedoch „um die Weiterführung der moralischen Revolution“.

137 ehemalige Stasi-Mitarbeiter hätten im zentralen Staatsarchiv der DDR Unterschlupf gefunden. Das sei so, „als ob ehemalige Nazis ihre eigenen Akten verwalten“, schimpfte Schult und wandte sich strikt gegen die Abschaffung der Bürgerkomitees, die stattdessen schleunigst rechtlich abgesichert werden müßten. Ihre Legitimation hätten die Bürgerkomitees nicht durch Wahlen, sondern durch ihre Arbeit erlangt. Sie seien vielleicht die einzige Instanz, die gegenwärtig zur Aufarbeitung der Vergangenheit in der Lage sei. Die BRD müsse die „Schritte innerer Abrüstung“ in der DDR nachvollziehen, statt über die Ausweitung von Bundesnachrichtendienst und Verfassungsschutz in Richtung Osten nachzudenken, sagte Schult. Wenn die Parlamente nicht zur Abschaffung der Dienste in der Lage seien, müsse das eben die Straße tun. Schult schloß seine Rede mit einer neuen Variante der Sprechchöre des Frühherbstes: „Wir sind das Volk, wir bleiben hier - wir kommen wieder!“

Als Gregor Gysi plötzlich unter den DemonstrantInnen gesichtet wurde, schien die Stimmung eher unfreundlich. Auch der PDS-Vorsitzende plädiert für eine Durchleuchtung der Volkskammerabgeordneten. Die Mitglieder seiner Fraktion wollen sich der Prozedur jedoch nur zum Teil unterziehen. „Gysi raus!“, riefen die Leute und vereinzelt: „Verräter!“. Bei dieser Demonstration wollte man Gregor Gysi offenbar nicht dabei haben.

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