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Schuld und Sühne

■ In Chile und der UdSSR, Argentinien und der DDR, Pakistan und Uganda, überall die gleiche Frage: Was soll mit den Schuldigen geschehen? Aryeh Neier ist Executive Director of Human Rights Watch. Eines seiner Bücher heißt „Defending My Enemy“.

Aryeh Neier

In den achtziger Jahren wurden zahlreiche Diktaturen durch demokratisch gewählte zivile Regierungen abgelöst oder begannen zumindest, ihnen Platz zu machen. Dieser Trend zeigte sich am deutlichsten in Mittelamerika und Südamerika und fand seinen wohl überraschendsten Ausdruck in Osteuropa und in der Sowjetunion. Er erfaßte aber auch asiatische Regierungen, so in Korea, Taiwan, Pakistan und den Philippinen.

Ob sich in all diesen Nationen oder auch nur in einer einzigen von ihnen tatsächlich eine echte Demokratie entwickeln wird, in denen die Rechte vollständig geschützt sind, ist natürlich noch lange nicht sicher. Das wird zumindest teilweise von Faktoren abhängen, die von einem einzelnen Land nicht kontrolliert werden können, wie zum Beispiel den internationalen wirtschaftlichen Entwicklungen, aber auch von der Frage, ob die gegenwärtige Phase der Entspannung zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion anhält. In einer ganzen Reihe von Ländern jedoch, deren Zukunft noch ungewiß ist, lautet eine der schwierigsten Fragen, was man mit der Vergangenheit tun soll.

Unter den Nationen, die sich gegenwärtig in einer Phase des „Übergangs zur Demokratie“ befinden, machte vor allem die Regierung in Argentinien Anstrengungen, mit dem Machtmißbrauch in der Vergangenheit fertig zu werden.

Gleich nach ihrem Amtsantritt im Dezember 1983 setzte die neue Regierung unter Präsident Raul Alfonsin einen zivilen Untersuchungsausschuß ein, der vom Schriftsteller Ernesto Sabato geleitet wurde und sich umgehend mit dem Verschwinden so vieler Menschen im Laufe der vorangegangenen siebeneinhalb Jahre befassen sollte, als Tausende von Menschen entführt, gefoltert und ermordet und ihre Leichname heimlich beseitigt wurden, während die Militärregierung sich weigerte, irgendwelche Informationen über das Schicksal der Verschwundenen preiszugeben.

Diese Verbrechen, denen in Argentinien mehr als 9.000 Menschen zum Opfer fielen, fanden unter dem Militärregime statt, das 1976 an die Macht gekommen war, als die Präsidentin Isabel Peron durch einen Staatsstreich gestürzt wurde, und bis 1983 andauerte, als erneut eine bürgerliche Regierung eingesetzt wurde, nachdem die Streitkräfte nach ihrer erniedrigenden Niederlage im Falkland-Krieg im Jahre zuvor diskreditiert worden waren.

Alfonsin ordnete die gerichtliche Verfolgung der groben Verstöße gegen die Menschenrechte durch die neun Militärkommandeure an, die an den ersten drei Juntas beteiligt gewesen waren, die Argentinien in den Jahren nach dem Staatsstreich regiert hatten. Die Anklage wurde von prominenten Anwälten erhoben, wobei einige von ihnen keine politischen Verbindungen zu Alfonsins Partei hatten.

Art und Ausmaß der Verbrechen und die Identität der Opfer wurden genauestens ermittelt und dokumentiert; die Rechte derjenigen, die eines Verbrechens beschuldigt wurden, wurden peinlich gewahrt; die Schuld der Junta-Mitglieder wurde sorgfältig abgewogen, und fünf von ihnen wurden schuldig gesprochen und zu Haftstrafen zwischen vier Jahren und lebenslänglich verurteilt. Modell Argentinien

Die argentinische Öffentlichkeit wurde umfassend informiert, so daß die gesamte Nation sich ein genaues Bild davon machen konnte, was geschehen war. Die Gerichtsverhandlungen wurden mit Würde geführt und verschafften der Rechsstaatlichkeit neuen Respekt.

Und dennoch ging etwas ernstlich schief. Eine Gruppe militärischer Offiziere von niedrigerem Rang, die ebenfalls vor Gericht gestellt werden sollten, zettelte im Rahmen einer Verschwörung während der letzten Amtsjahre von Präsident Alfonsin mehrere kleinere Militärrevolten an. Eine Reihe von Armeeposten wurde kurzfristig besetzt, und angeklagte Offiziere wurden vor einer Verhaftung und Gerichtsverhandlung bewahrt.

Eine der Folgen dieser Aktionen bestand darin, daß ein großer Teil von dem, was Alfonsin erreicht hatte, angefochten oder rückgängig gemacht wurde, ehe er aus dem Amt schied. Diese Rücknahmen gingen jetzt unter seinem Nachfolger Carlos Saul Menem noch beträchtlich weiter, der bereits mehrere Monate vor dem offiziellen Ende der Amtsperiode Alfonsins mitten in einer Wirtschaftskrise 1989 die Präsidentschaft übernahm.

In der Sowjetunion fand keine solche gerichtliche Verfolgung statt. Trotz Gorbatschow und Glasnost hat es hier von seiten der Regierung noch keine formale Untersuchung und keine Enthüllungen über die Verbrechen der Vergangenheit gegeben. Noch besteht große Aussicht, daß die sowjetische Regierung sich offiziell mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen wird.

Das Äußerste, wozu sie bis heute bereit war, bestand darin, daß sie die Veröffentlichung von Ausschnitten aus Werken wie Alexander Solschenizyns Der Archipel Gulag und den Erinnerungen anderer Opfer geduldet hat. Diese Texte beginnen jetzt in verschiedenen Zeitschriften zu erscheinen, in denen auch einige sowjetische Historiker die Forderung aufgestellt haben, die Archive zu öffnen und die Wahrheit über die Vergangenheit publik zu machen.

Einen wichtigen Teil der Bemühungen in der Sowjetunion, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, macht die Arbeit einer Organisation aus, die unter dem Namen „Memorial“ bekannt ist.

„Memorial“ fordert nicht, irgendjemanden zu bestrafen. Angesichts der langen Zeit, die seit den stalinistischen Greueltaten vergangen ist, denen das Hauptinteresse der Gruppe gilt, ist das keine Überraschung. Noch verlangen die Führer von „Memorial“ die Bestrafung von Untaten aus jüngerer Zeit. Sergej Kowaljow, ein Biologe, der wegen seines Eintretens für die Menschenrechte von 1974 bis 1981 im Gefängnis saß und danach drei Jahre im inneren Exil verbrachte und heute wieder als eine der führenden Persönlichkeiten der Bürgerrechtsbewegung in der Sowjetunion gilt, sagte mir vor einem Jahr, an dem sowjetischen Unterdrückungsapparat seien so viele Menschen beteiligt gewesen, daß es unmöglich wäre, einzelne Staatsbeamte zur Verantwortung zu ziehen.

Kowaljow engagiert sich in letzter Zeit besonders für die Rehabilitierung von Tausenden von politischen Gefangenen, die in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren ins Lager gesteckt und inzwischen wieder freigelassen wurden. Nur einer Handvoll von ihnen ist es nach langwierigen Anstrengungen in eigener Sache gelungen, eine offizielle Bestätigung zu bekommen, daß sie wieder gute, loyale Bürger sind. Die übrigen leiden bis heute unter vielfältigen Einschränkungen ihres täglichen Lebens; so haben sie zum Beispiel Schwierigkeiten, eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen, weil sie solcher Verbrechen wie antisowjetischer Agitation überführt worden waren.

Einige Funktionäre, die heute ebenfalls der Meinung sind, daß die gesetzlichen Bestimmungen, die solche Verbrechen unter Strafe stellen, revidiert werden sollten, haben gleichzeitig betont, daß sie nicht gewillt sind, die Rehabilitierung der betreffenden Personen zu unterstützen, da ihre Verurteilung unter den damals herrschenden Bedingungen durchaus gerechtfertigt gewesen sei - eine vage und nicht zu haltende bürokratische Formel. Die sowjetische Regierung selbst hat noch keine Schritte unternommen, um die Verurteilung der Betreffenden aus dem Strafregister zu löschen, sei es durch fallweise Entscheidung oder durch allgemeine Gesetzgebung. Amnestie für stalinistische Verbrecher?

Obwohl Stalins Verbrechen vor sehr langer Zeit geschahen, haben auch heute noch viele Menschen in der Sowjetunion an den Folgen zu leiden. Der Fall der Krimtataren ist ein anschauliches Beispiel in diesem Zusammenhang. Obwohl die meisten der Krimtataren der Herrschaft Stalins ausgesprochen feindlich gegenüberstanden, opferten Zehntausende von ihnen ihr Leben im Kampf gegen die deutschen Invasoren im Zweiten Weltkrieg. Dessen ungeachtet wurden die Krimtataren nach der erfolgreichen Vertreibung der Deutschen von der Krim im Mai 1944 kollektiv beschuldigt, ihr Land an den Feind verraten zu haben.

Man trieb sie zusammen, lud sie in Güterwagen und brachte sie nach Zentralasien, wo diejenigen, die die Reise überlebten, gezwungen waren, in ungeheizten Hütten zu hausen. Ungefähr 200.000 Menschen - beinahe die Hälfte derer, die zwangsweise umgesiedelt wurden - starben an Erstickung, Hunger, Kälte und Krankheit.

Die Krimtataren waren die Opfer eines schrecklichen Verbrechens, aber die meisten sowjetischen Bürger wissen nur wenig darüber, was mit ihnen geschah - weit weniger, beispielsweise, als die Amerikaner über die zwangsweise Umsiedlung und Internierung japanischer Amerikaner durch die US-Regierung etwa zur gleichen Zeit wissen. Der amerikanische Kongreß hat sich vor kurzem dafür offiziell entschuldigt und eine finanzielle Entschädigung der Überlebenden beschlossen.

Entsprechendes wäre auch in der Sowjetunion angebracht, wenn die Regierung für die ungleich härtere Behandlung der Krimtataren Wiedergutmachung leisten will. Der erste und dringendste Schritt müßte jedoch sein, daß die sowjetische Regierung einen detaillierten, wahrheitsgetreuen und umfassenden Bericht darüber veröffentlicht, was den Krimtataren unter Stalin angetan wurde und wie sie leiden mußten - ein Bericht ähnlich wie der der Sabato-Kommission in Argentinien.

Eine Lösung für das Problem der geforderten Rückkehr dieser Menschen in ihre Heimat wird sich nicht unbedingt aus einer solchen Dokumentation ergeben, aber zumindest wird die Notwendigkeit deutlicher werden, sich mit dieser Forderung auseinanderzusetzen. Jeder sein eigener Freisprecher

Amnestiegesetze sind in lateinamerikanischen Ländern sehr populär (gewesen), in denen die Streitkräfte Verbrechen gegen die Bevölkerung des eigenen Landes verübt haben. In Brasilien gewährten sich die Militärs im Jahre 1979 selbst eine Amnestie, ehe sie 1985 schließlich die Wiedereinsetzung einer bürgerlichen Regierung gestatteten. In Uruguay verabschiedete die im Jahre 1985 eingesetzte Zivilregierung ein Jahr später ein Amnestiegesetz und löste damit offenbar ein privates Versprechen an die Militärs ein, das sie im Rahmen des Naval Club Pact gegeben hatte, dessen Vereinbarungen den Übergang zu einer zivilen Regierung ermöglicht hatten.

Mehr als ein Viertel der Wähler in Uruguay unterschrieb eine Petition, die eine Volksabstimmung über das Amnestiegesetz verlangte. Nach einer erbitterten Kampagne stimmte die Mehrheit der Wähler schließlich im vergangenen April für die Beibehaltung des Amnestiegesetzes.

In Guatemala erkärten die Streitkräfte im Januar 1986 eine Amnestie für sich selbst - nur vier Tage vor der Übergabe der Macht an den bürgerlichen Präsidenten Vinicio Cerezo. Der Präsident akzeptierte diese Amnestie ohne Zögern. (Zuvor hatte Präsident Raul Alfonsin die Amnestie, die sich die argentinischen Militärs kurz vor seiner Wahl zum Präsidenten selbst verordnet hatten, für nichtig erklärt.)

Die Amnestie in Guatemala sollte rückwirkend bis zum Jahre 1982 gelten, dem Jahr, in dem die Militärs eine weitere Amnestie beschlossen hatten, die sie von allen bis zu diesem Zeitpunkt begangenen Verbrechen freisprach. In El Salvador verkündete die Regierung von Jose Napoleon Duarte im Oktober 1987 ebenfalls eine Amnestie für die Streitkräfte, offenkundig in Übereinstimmung mit den Bestimmungen des zentralamerikanischen Friedensplans, den die fünf Präsidenten der Region zwei Monate zuvor unterzeichnet hatten. Allerdings sah dieser Plan nur eine Amnestie für die Guerrillatruppen vor, die in dieser Region gegen die Regierung gekämpft hatten.

Entsprechende Amnestieregelungen für die Militärs wurden etwa zur gleichen Zeit in Honduras getroffen, wo es keinen Guerrillakrieg gab, sowie wieder einmal in Guatemala, diesmal für den Zeitraum seit der Amnestie von 1986.

In Nicaragua verkündete die Regierung im Jahre 1983 eine Amnestie sowohl für gefangene Miskito-Indianer als auch für die sandinistischen Truppen, die sich Verbrechen an den Miskitos schuldig gemacht hatten. Wenn erst einmal die restlichen rund 1.300 nicaraguanischen Gefangenen, denen Aktivitäten für die Contras vorgeworfen werden, freigelassen werden, dann wird die Regierung die Amnestieregelung mit ziemlicher Sicherheit auch auf ihre Sicherheitspolizei und Armee ausdehnen, die wegen Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung angeklagt und in einigen Fällen auch verurteilt wurden.

In Chile verkündete das Pinochet-Regime eine Amnestie für die Streitkräfte für Verbrechen, die bis ins Jahr 1978 datieren, und versuchte, sich so selbst von den eigenen Verbrechen freizusprechen, die das Regime in den ersten fünf Jahren, der blutigsten Periode seiner Herrschaft, begangen hatte. Internationales Recht gegen nationales Unrecht?

Nun könnte man einwenden, daß keine dieser Amnestien nach internationalem Recht Gültigkeit besitzt. Die Internationale Konvention über bürgerliche und politische Rechte, das von den Vereinigten Staaten, der Sowjetunion und den meisten lateinamerikanischen Staaten ratifiziert wurde, schreibt vor, daß ein Staat „wirksame Maßnahmen“ gegen Machtmißbrauch treffen muß. Die Genfer Konventionen zur Regelung des Kriegsrechts, die von beinahe allen Staaten der Welt ratifiziert wurden, enthalten sehr viel genauere Bestimmungen und schreiben vor, daß die Staaten diejenigen aufspüren sollen, die sich im Rahmen militärischer Konflikte „schwerer Verstöße“ schuldig machen, und „solche Personen ohne Ansehen ihrer Nationalität vor die eigenen Gerichte bringen“. Allerdings gibt es keinen Weg, die Einhaltung solcher internationaler Abkommen auch tatsächlich zu erzwingen.

Auch wenn eine Amnestie also unter Umständen keine Rechtsgültigkeit besitzt, insbesondere im Falle weitreichender Verbrechen im Zusammenhang mit militärischen Konflikten wie in Afghanistan und El Salvador, birgt die strafrechtliche Verfolgung von Angehörigen der Streitkräfte wegen solcher Verbrechen große Risiken. Einige der zivilen Regierungen, die Militärdiktaturen abgelöst haben, zum Beispiel auf den Philippinen oder in einigen Ländern Lateinamerikas, würden aller Voraussicht nach ihren Sturz riskieren, wenn sie Offiziere vor Gericht stellen würden, die für Folterungen oder politische Morde verantwortlich sind.

Der guatemaltekische Präsident Cerezo sagte mir wenige Wochen nach seinem Amtsantritt im Jahre 1986, daß es das Ende seiner Regierung bedeuten würde, wenn er die Amnestie, die die Militärs für sich selbst verkündet hatten, anfechten wollte. In Uruguay erklärten einige Parlamentarier, die für die Amnestiegesetze gestimmt hatten, und eine Reihe von Wählern, die diese Amnestie in der nachfolgenden Volksabstimmung gebilligt hatten, sie fürchteten, eine strafrechtliche Verfolgung von Angehörigen der Streitkräfte würde sofort einen Militärputsch heraufbeschwören.

Und selbst wenn eine zivile Regierung nicht gestürzt werden sollte, wäre sie wohl kaum in der Lage, die angeordneten Maßnahmen auch tatsächlich durchzusetzen, wenn die Streitkräfte oder zumindest Teile von ihnen entschlossen sind, eine Strafverfolgung zu blockieren. So war es wohl eher die Rücksicht auf die Halsstarrigkeit der Militärs und nicht so sehr die Furcht vor einem tatsächlichen Militärputsch, die den argentinischen Präsidenten Alfonsin veranlaßte, auf die strafrechtliche Verfolgung der Offiziere mittlerer Ränge zu verzichten, die sich in den Jahren des „schmutzigen Krieges gegen die Subversion“ schlimmster Verbrechen schuldig gemacht hatten. Der Zweck und die Mittel

Ein schmerzliches Dilemma entsteht dann, wenn das Bemühen, Verbrecher zur Rechenschaft zu ziehen, die Gefahr mit sich bringt, daß eine zivile Regierung gestürzt wird. Es erscheint unzumutbar, den Militärs zu gestatten, sich selbst eine Immunität gegen die strafrechtliche Verfolgung ihrer grauenhaften Verbrechen zu genehmigen, aber auf der anderen Seite scheint es auch irrational, darauf zu bestehen, daß eine gewählte zivile Regierung Selbstmord begeht, indem sie sich mit ihren Streitkräften anlegt.

Ein Land, das erfolgreich mit den Greueltaten der Vergangenheit aufgeräumt hat, wenn auch ohne einen „Übergang zur Demokratie“, ist Uganda. Die Regierung von General Yoweri Museveni setzte 1986 eine Untersuchungskommission ein, die sich seitdem in zahlreichen Hearings mit den Verbrechen befaßt hat, die von der Armee Ugandas unter Musevenis grausamen Vorgängern Idi Amin und Milton Obote begangen wurden. Im Gegensatz zur Sabato-Kommission in Argentinien fanden die Hearings der ugandischen Kommission öffentlich statt und wurden live von Radio und Fernsehen übertragen.

In der Tat sind die Übertragungen dieser Hearings, in denen überlebende Opfer, aber auch ihre Unterdrücker beim Publikum ein wahrheitsgetreues Bild der schrecklichen Vergangenheit Ugandas entstehen lassen, die bei weitem beliebtesten Sendungen in Uganda. Dabei ist offen, wie es mit diesen Hearings weitergehen wird und ob die hier beschuldigten Personen vor Gericht gestellt und ein ordentliches Verfahren erhalten werden; bis jetzt gibt es noch kein Zeichen dafür, was mit ihnen geschehen soll.

Die Philippinen haben es bisher versäumt, die Verantwortlichkeit für die Verbrechen der Vergangenheit zumindest im gleichen Maße klarzustellen, wie es in Uganda geschehen ist. Frau Aquino kam mit der Unterstützung der Kommandeure der Streitkräfte an die Macht, und obwohl sie ein Komitee für Menschenrechte (PCHR) eingesetzt hat, das die in der Vergangenheit bekanntgewordenen Fälle von Amtsmißbrauch, meist durch zivile Polizisten, Sicherheitskräfte und Gefängnisbeamte, aufhellen soll, blieben Militäroffiziere von den frühen Untersuchungen dieses Komitees zum größten Teil ausgeschlossen.

Bald nach der Gründung des PCHR verstarb der hoch geachtete Vorsitzende dieses Komitees, der Rechtsanwalt Jose Diokno, an einem Krebsleiden. Aufgrund der Tatsache, daß sie bei ihrem Bemühen, den Aufstand der „New People's Army“ niederzuschlagen, auf die Unterstützung des Militärs angewiesen war, zeigte sie immer weniger Bereitschaft, sich mit Armeeoffizieren anzulegen, die in schlimmster Weise gegen die Menschenrechte verstoßen hatten. Kaum ein Jahr nach seiner Gründung wurde das PCHR wieder aufgelöst.

Eine Reihe von Menschenrechtsaktivisten unterscheidet bei dem Prozeß der Festlegung der strafrechtlichen Verantworltichkeit zwei Phasen: die Phase der „Wahrheit“ und die Phase der „Gerechtigkeit“. Die Phase der Wahrheit beginnt, wenn eine Regierung die Verantwortlichkeit von Vertretern des Staates für Greueltaten und Amtsmißbrauch anerkennt und die Öffentlichkeit genau über die betreffenden Vorgänge informiert. Die Phase der Gerechtigkeit setzt dann ein, wenn die für groben Amtsmißbrauch verantwortlichen Personen strafrechtlich verfolgt und bei erwiesener Schuld bestraft werden. Wahrheit und Strafe

Die bei weitem wichtigere dieser beiden Phasen scheint mir die Phase der „Wahrheit“ zu sein. Erst wenn eine Nation wirklich weiß, was geschehen ist, kann sie offen darüber diskutieren, warum und wie solche schrecklichen Verbrechen geschehen konnten. Wenn die Verantwortlichen ermittelt und ihre Verbrechen öffentlich bekannt gemacht werden, dann ist die daraus resultierende öffentliche Stigmatisierung bereits selbst eine Art Strafe. Wenn man auf der anderen Seite auch die Opfer ermittelt und benennt und daran erinnert, wie sie gefoltert und ermordet wurden, dann ist auch das ein Weg, ihre Würde anzuerkennen.

Zu sagen, die Wahrheit sei wichtiger, ist keineswegs gleichbedeutend mit dem Versuch, die Bedeutung einer Bestrafung herunterzuspielen. Wenn eine Gesellschaft Gesetzesübertretungen bestraft, dann drückt sie damit ihre Achtung vor ihren eigenen Gesetzen aus und macht deutlich, daß jeder diesen Gesetzen unterworfen ist und weder Rang noch ein politisches Amt einen Menschen über das Gesetz erhebt. Gleichzeitig findet damit auch die Achtung vor den Opfern dieser Gesetzesübertretungen ihren Ausdruck: Mit der strafrechtlichen Verfolgung derjenigen, die ihnen wehgetan haben, unterstreicht eine Gesellschaftsordnung die Bedeutung, die sie dem damit angerichteten Schaden beimißt.

Natürlich sind die Bemühungen um Wahrheit und Gerechtigkeit eng miteinander verknüpft. In Argentinien trug die Enthüllung der Wahrheit durch die Sabato-Kommission zur Schaffung eines bestimmten Klimas in der öffentlichen Meinung bei, die die strafrechtlichen Bemühungen der Regierung unterstützte. In den meisten Fällen wird eine Regierung wie die argentinische versuche, die Wahrheit über ihre Repressionen zu unterdrücken, solange diese durchgeführt werden. Auch wenn zahlreiche Menschen durchaus eine Vorstellung davon haben mögen, daß Menschen ermordet und gefoltert werden oder ganz einfach verschwinden, so haben sie doch keine Informationen über das tatsächliche Ausmaß oder über Einzelheiten dieser Verbrechen.

Als die strafrechtliche Verfolgung einsetzte, lieferten die im Prozeß ans Licht gebrachten Informationen nicht nur eine Bestätigung der Ergebnisse der Sabato-Kommission, sondern führten auch zu einer genaueren Identifizierung der Folterer und Mörder. In der Tat, weil eine riesige Zahl von argentinischen Bürgern den Prozeß gegen Mitglieder der Militärjunta Tag für Tag im Fernsehen verfolgte, sorgte der Prozeß selbst in weit stärkerem Ausmaß als die Sabato -Kommission für die Verbreitung der Informationen.

Während des Prozesses erschien sogar eine besondere Tageszeitung mit den Protokollen der Verhandlungen sowie Diskussionsbeiträgen zum Thema, die weit mehr verkauft wurde als jede andere Tageszeitung des Landes.

Wenn in Uganda Hearings stattfinden können, in denen die Öffentlichkeit über die Verbrechen der Vergangenheit informiert wird, warum dann nicht auch in Moskau und in Santiago? Das Gleiche gilt heute auch für die DDR, die Tschechoslowakei und Rumänien. Groß und klein

Die Forderung nach solchen Hearings soll dabei keineswegs eine strafrechtliche Verfolgung ausschließen. Die Amnestie für Angehörige der sowjetischen Streitkräfte, die jetzt vom Obersten Sowjet verabschiedet wurde, war eindeutig nicht notwendig. Strafrechtliche Maßnahmen sollten zumindest im Bereich des Möglichen bleiben, insbesondere im Falle der höchsten Offiziere, die die Übergriffe befohlen haben, und zwar nicht nur, weil sie die Verantwortung tragen, sondern auch, weil eine solche Strafverfolgung, wie die Erfahrungen in Argentinien gelehrt haben, politisch eher durchsetzbar ist. Wenn nämlich Untergebene vor Gericht gestellt werden, dann haben die Kommandeure, die ihre Übergriffe befohlen, sanktioniert oder toleriert haben, kaum eine andere Wahl, als ihnen zu Hilfe zu kommen.

Auf der anderen Seite haben die Untergebenen eines Kommandeurs keine solche Verpflichtung. Ihre Loyalität gilt der Nation und der Institution der Streitkräfte. Sie mögen ihre Kommandeure unter Umständen verteidigen, aber wie sich in Argentinien gezeigt hat, ist das bei weitem nicht sicher, wenn der Staat die notwendigen Grundlagen dafür schafft, daß diejenigen zur Verantwortung gezogen werden können, die die Befehlsgewalt hatten.

Der entscheidende Punkt ist, daß Verantwortlichkeit nicht allein als politische Taktik verstanden oder bewertet wird. Verantwortlichkeit bedeutet die Anerkennung der moralischen Verantwortung für die Geschehnisse der Verganenheit, auch wenn unter den gegebenen Bedingungen nur wenig getan werden kann, aus dieser Verantwortung die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Überall auf der Welt haben Diktaturen unaussprechliche Verbrechen begangen. Die ideologische Rechtfertigung für diese Verbrechen war in der Regel eine rein utilitaristische - eine Variation des Themas von der Notwendigkeit, dem Allgemeinwohl zu dienen, gleich ob dieses „Aufbau des Sozialismus“ heißt wie im Falle Stalins oder Maos, Bekämpfung des Terrorismus wie in Argentinien oder Niederschlagung eines kommunistischen Aufstands in Guatemala.

Verantwortlichkeit zu fordern, insbesondere wenn es darum geht, die Wahrheit ans Licht zu bringen, heißt, darauf zu bestehen, daß Menschen nicht für ein übergeordnetes Allgemeinwohl geopfert werden dürfen, daß ihre Leiden publik und der Staat als ihr Verursacher kenntlich gemacht werden sollten.

Für alle, die diese Auffassung teilen, ist die in diesen Bestrebungen zum Ausdruck kommende Achtung vor den Rechten des einzelnen die Grundlage einer demokratischen Regierung. Eine Reihe von politischen Führern in den Ländern, die sich im „Übergang zur Demokratie“ befinden, reagieren unwillig auf die Forderungen früherer Opfer und ihrer Familien und betrachten sie als ein Hindernis für die Bemühungen um eine „nationale Versöhnung“ und die Hoffnung auf eine stabilen demokratischen Regierung.

Sie befürchten, daß diejenigen, die für die Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit zur Rechenschaft gezogen werden sollen, sich später dafür rächen könnten. Derartige Befürchtungen sind in vielen Fällen durchaus verständlich, aber in dem Maße, wie eine Gesellschaft oder eine Regierung das Prinzip der Verantworltichkeit als überflüssig betrachtet, unterläuft sie ihre Chancen für eine wirkliche Demokratie, in der die Bürger darauf vertrauen können, daß ihre Rechte wirksam geschützt werden.

Übersetzung: Hans Harbort

Stark gekürzt aus: 'New York Review of Books‘, 1. Februar 1990.

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