Von Grimm zu Grips

■ Anmerkungen zu einem Hearing über die Situation des Kinder- und Jugendtheaters

Wurde Dornröschen bei den Brüdern Grimm noch wachgeküßt, um anschließend ein trautes Prinzessinnendasein zu fristen, müßte sie heutzutage und gemäß dem modernen Verständnis von Kinder- und Jugendtheater (a la Berliner „Grips“) zunächst fragen: „Was heißt hier Liebe?“ Und bevor sich Prinz und Prinzessin endlich finden, gäbe es eine lange Diskussion über Beziehungen und Sexualität.

Theater für Kinder und Jugendliche hat für Wolfgang Schneider „narrativ, existentiell und politisch“ zu sein. Der Leiter des „Kinder- und Jugendtheaterzentrums in der BRD“ (Frankfurt) referierte als Teilnehmer eines Hearings des Marburger Schauspiels und des Magistrats der Stadt über die Tendenzen eines Theaters für junge Zuschauer. Neben ihm diskutierten Autoren, Dramaturgen, Regisseure und Theaterleiter aus der Bundesrepublik sowie der DDR, Schweden, Österreich und den Niederlanden.

Der Versuch, anläßlich der 1991 anstehenden Gründungen eines Marburger Kinder- und Jugendtheaters über den mittelhessischen Tellerrand hinauszublicken, wundert angesichts der Entwicklungen dieses Genres nicht weiter. Waren es über Jahre hinweg die Freien Gruppen, die auf diesem Gebiet konsequent arbeiteten, wächst nun die Zahl der Städte mit einem eigenen Theater für junge Zuschauer. Das obligatorische Weihnachtsmärchen reißt die Kids längst nicht mehr vom Theaterhocker. Die Macher und Financiers stellen sich darauf ein, denn wer früher nicht gern ins Theater ging, der wird es später auch nicht tun. Landesbühnen für Kinder- und Jugendteater werden allerorten installiert. Die Späthsche Kulturpolitik hat mit ihrem gutgefüllten Staatssäckel Zeichen setzen können, und die SPD-regierten Länder wollen nicht das Nachsehen haben. Diese Entwicklung täuscht allzu leicht über die Versäumnisse hinweg, die es zeitgemäßem und experimentellem Kindertheater bis heute schwer machen, anerkannt zu werden. Daß Stücke für kleine Zuschauer nicht immer nur unbearbeitete Märchenvorlagen sein müssen, zeigt der Vergleich mit Schweden.

„Theater für Zwei- und Dreijährige ist in Schweden keine Seltenheit“, sagt Dirk Fröse, Dramaturg (Köln/Frankfurt). „Wenn er aus der Perspektive von Kindern erzählt wird, ist kaum ein Stoff zu schwierig für sie.“ Erfahrungen mit Tanz und experimentellem Theater nach Art der Inszenierungen von Pina Bausch bestätigen das. Wo Eltern noch glauben, ihre Sprößlinge könnten damit nichts anfangen, haben die sich längst von Licht-, Raum- und Toncollagen entführen lassen.

Jürgen Flügge (Internationaler Verein des Theaters für Kinder und Jugendliche) und Dirk Fröse berichteten beim Marburger Hearing von dem niederländischen Versuch, „Familientheater“ zu machen. Das Rezept ist verbüffend einfach. Klassische Stoffe werden so zusammengestellt oder ergänzt, daß Hamlet und Der kleine Prinz von Dänemark, Medea und Medeas Kinder dabei herauskommen können. Der gemeinsame Theaterbesuch von Kleinen und Großen würde damit förmlich provoziert, Diskussionen wären möglich, Zielgruppentheater hätte sich erübrigt. Die Gefahr des vielfach beschworenen Verlustes von Kindheit durch die Konfrontation von Kindern mit allen Bereichen von Kultur ist für Dirk Fröse gering, sofern sie auch andere Zugänge bereithält. Dazu gehört, Theater mit eigenen Aktionen selber auszuprobieren, wie Theater gemacht wird und wer die Schauspieler sind.

Die Dramaturgin Marlene Schneider (Wien) kann von solchen Experimenten nur träumen. Verlust von Kindheit drückt sich in Österreich eher durch „in Rüschenkleidchen und Anzug gezwängte“ Knirpse aus, deren Eltern daran festhalten, daß „der Theaterbesuch ein Ritual ist“. Falls überhaupt zeitgenössisches Kindertheater angeboten wird, kommen die Vorlagen aus der Bundesrepublik und sind als „preußisch“ verschrien, was in diesem Fall mit „zu progressiv“ zu übersetzen ist. Theater nach Art der Berliner „Grips„-Bühne ist dort wie hier die Ausnahme. So werden die Grimms den Spielplan rauf und runter bemüht, und die Feuilletons widmen sich weiterhin notgedrungen den spektakulären Inszenierungen für „Erwachsene“.

Als ich Dornröschen zum letzten Mal sah, stand sie inmitten eines bunten Haufens skurriler Gestalten am Wiener Hauptbahnhof. „356 mal Stockholm“, brummte der Schalterbeamte, „92 Tiere, 77 Sonderabteile für Riesen und 26 mal halber Preis für Zwerge... Rückfahrt?“ Dornröschen schüttelte die blondierte Löwenmähne und drehte den Walkman bis zum Anschlag. „Naja, jedenfalls vorläufig nicht“, kicherte die Frau mit dem Bettzeug unterm Arm und kramte nach der Scheckkarte.

Antje Friedrich