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„Laßt die Männer hinterm Vorhang sitzen“

■ Die ganze Bibel ist sexistisch. Auch im liberalen Judentum ist die Gleichberechtigung nur formal. Deshalb suchen in den USA jüdische Frauen nach neuen Ritualen im Rahmen einer feministischen Religiosität. Ein Gespräch mit Susannah Heschel, Dozentin für „Jewish Studies“

taz: Es gibt heute drei Hauptströmungen im Judentum: die Orthodoxie, das liberale und das Reform-Judentum. In den beiden letzten gilt die Gleichberechtigung in der religiösen Praxis, Männer sitzen in den Synagogen zusammen mit Frauen, Frauen können Rabbinerinnen werden und einen Tallit, einen Gebetsschal, tragen. Die Mehrheit der Juden in den USA sind Anhänger der liberalen Richtung. Warum reicht Ihnen diese Form von Gleichberechtigung nicht?

Susannah Heschel: Weil Frauen und Männer dort nur formal gleichberechtigt sind. Denn abgesehen davon, daß die Frauen nach dem Gottesdienst Kaffee und Plätzchen servieren, und der Rabbiner noch immer vom „Mann“ als Menschen und vom „Herrn“ als Gott predigt, ist die Liturgie, die gesamte Grundlage sexistisch. Die Bibel ist aus der Sicht des Mannes geschrieben; zum Beispiel die Geschichte von Dina (Jakobs Tochter; Anm. der Red.). Sie zog aus, wie es heißt, „um die Töchter des Landes zu sehen“ und wurde vergewaltigt. Eine Gruppe jüdischer Frauen hat die Geschichte einmal als Biblio -Drama nachgespielt. Die Frau in der Rolle von Dina begann plötzlich zu schreien. Es sei, sagte sie später, als wäre sie dreimal vergewaltigt worden, einmal durch jenen Mann, das zweite Mal durch die Brüder, die sich nicht um sie kümmerten, sondern nur daran dachten, daß der Name Israel geschändet sei und deshalb einen Massenmord anstifteten, und das dritte Mal durch die Bibel, die Dina nicht zu Wort kommen läßt. Außer ihrer Vergewaltigung erfahren wir nichts über sie. Über Dina gibt es auch eine schlimme Sage außerhalb der Bibel. Darin heißt es: Wäre sie nicht losgezogen, wäre sie auch nicht vergewaltigt worden. Sie sei also an ihrem Schicksal selbst Schuld.

Ihre Kritik könnte man aber auch der Bibel selbst entnehmen. Schließlich verurteilte Dinas Vater, Jakob, ebenfalls das brutale Verhalten seiner Söhne. Überhaupt erscheint es mir nicht schwer, viele der biblischen Geschichten neu, aus Frauensicht, auszulegen; dazu gibt die Bibel genügend Freiraum. Komplizierter für eine religiöse, jüdische Feministin verhält es sich dagegen mit den jüdischen Gesetzen, die die Rolle der Frau im Alltag bestimmen - zum Beispiel ihre Unreinheit und Absonderung während der Menstruation. Welchen Stellenwert haben für Sie die jüdischen Gesetze?

Es ist nicht meine Aufgabe, Frauen ihr Verhalten vorzuschreiben. Was sie richtig finden, sollten sie tun, was nicht, sollten sie bleiben lassen. Ich finde aber, und das ist mir in Deutschland besonders stark aufgefallen, daß viele die Bibel wie einen Diamanten betrachten, vor dem sie in Ehrfurcht erblinden. Und da gibt es dann nur noch die totale Identifikation oder die totale Ablehnung. Die Bibel ist aber eine Manifestation ihrer Zeit. Es stand ja nicht zuerst in der Bibel, daß die Frau das Eigentum des Mannes sei. Und seitdem behandelt man sie so. Die Frau war schon vorher sein Eigentum, und das hat sich im Text niedergeschlagen.

Die Gesetze und ihre Auslegung haben sich außerdem im Judentum immer verändert. Schon von der Bibel zum Talmud gibt es sehr große Unterschiede. Die Bibel sagt: ein Mann soll nicht mit seiner Frau schlafen, während sie menstruiert; der Talmud verbietet den Geschlechtsverkehr während dieser Zeit plus eine Woche danach.

Eine feministische Einstellung wäre in diesem Fall, klarzumachen, bei wem das Problem liegt. Die Absonderung während der Menstruation bezieht sich auf den Ehemann der Betroffenen. Er glaubt, durch ihre Menstruation unrein zu werden, deshalb muß sie in die Mikwe, ins rituelle Tauchbad, gehen. Er fürchtet sich vor ihrem Körper. Meist ist die Unterdrückung der Frauen bei genauerem Hinsehen das Problem der Männer. Frauen müssen zum Beispiel in orthodoxen Synagogen hinter dem Vorhang sitzen. Warum? Damit die Männer sich nicht gestört fühlen. Aber es sind die Männer, die sich gestört fühlen, nicht die Frauen. Laßt also die Männer hinter den Vorhängen sitzen.

Durch die Bibel zieht sich eine schreckliche Einstellung zum Körper der Frau. Immer wieder wird eine scharfe Trennung zwischen dem Heiligen und dem Sexuellen gezogen. Moses beispielsweise ordnete gegenüber den israelitischen Männern an, vor der Offenbarung Gottes keine Frauen zu berühren. Offensichtlich hatte auch Moses Angst vor dem Körper der Frau. Die Bibel handelt von Menschen, die genau wie andere Schwierigkeiten hatten. Wir sollten ihre Probleme nicht kopieren. Die Bibel erzählt von vielen Dingen, die man nicht tun sollte. Das gilt auch für das Neue Testament. Jesus verlor oft seine Beherrschung. Sollen wir ihm darin folgen? Oder das Massaker an unschuldigen Menschen wegen Dinas Vergewaltigung. Sollen wir jetzt morden, bloß weil Dinas Brüder es getan haben? Oder Sklaverei. Die Bibel erlaubt Sklaverei. Wir lehnen sie ab.

Was wäre für Sie ein feministischer, jüdischer Gottesdienst?

Da es nicht den jüdischen Feminismus gibt, gibt es auch nicht den feministischen Gottesdienst. Es gibt viele Wege, und jüdische Frauen in den USA, also auch ich, erproben derzeit die Möglichkeit eines jüdisch-religiösen Feminismus. Zum Beispiel Rosch Chodesch (Neumond), in alten Zeiten ein wichtiger Feiertag für Frauen. Überall in den USA entwickeln Frauengruppen Methoden, Rosch Chodesch zu begehen - manche mit eigenen Ritualen, manche mit speziellen Mahlzeiten, andere mit Diskussionen über die Bedeutung des jeweiligen Monats. Inzwischen sind sogar Gebetsbücher von Feministinnen geschrieben worden und Haggadoth, also Bücher, die vom Auszug aus der ägyptischen Sklaverei erzählen. Sie beschreiben den Exodus als Befreiung und damit auch als Frauenbefreiung. Sie erzählen von Moses‘ Mutter und dessen Schwester. Sie behandeln weibliche Motive, wie zum Beispiel die Geburt, denn mit dem Exodus wurde das jüdische Volk wiedergeboren.

Wie wurden Sie zu einer jüdischen, religiösen Feministin?

Ich wurde schon mit einem Sinn für Gerechtigkeit geboren. Meine Eltern behandelten sich gegenseitig mit Respekt; als Kind hielt ich das für normal. Sehr schwierig wurde es für mich, als mein Vater starb und ich Kaddisch, das jüdische Totengebet, für ihn sagen mußte. Ich versuchte dafür eine Synagoge zu finden, viele Synagogen wollten mich gar nicht erst hereinlassen oder stellten mir sehr unangenehme Bedingungen.

Ich war damals bereits Anhängerin der Bürgerrechtsbewegung, die all die Diskussionen über die Gleichberechtigung aufgebracht hatte. Zunächst dachte ich, daß man die Halacha, also die jüdischen Gesetze, hie und da ein bißchen verändern könnte, und alles wäre wieder gut. Aber dann las ich als College-Studentin „Beyond God the Father“ von Mary Daly, einer christlichen Feministin, und das hat mich sehr deprimiert. Die Autorin hatte nämlich gezeigt, daß das Problem nicht in diesem oder jenem Brauch liegt, sondern daß alles mit dem religiösen Grundverständnis, den Bildern und Symbolen zusammenhängt. Ich erkannte, daß sich bestimmte Dinge grundsätzlich ändern müssen.

Das Gespräch führte Elisa Klapheck

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