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Ein Tag der Trauer und des Widerstands

■ Am Gedenktag der Toten, dem 5. April, hatten Chinas Demokratiebewegungen stets Anlaß zum Protest

Im Chinesischen liest sich das Datum des 5. April, des Gedenktages der Toten, in umgekehrter Reihenfolge, also „Vier Fünf“. An diese Zahlen knüpfen sich eine ganze Reihe geschichtsträchtiger Ereignisse, auf die sich auch die Demokratiebewegung des vergangenen Frühlings bezog.

Als die Viererbande im Jahre 1976 die Trauerbekundungen der Bevölkerung zum Tode von Zhou Enlai unterdrückte, kulminierte daraufhin der Volksaufstand am Tag des Qingming und wurde am Tiananmen blutig zusammengeschlagen. Im nachhinein wurde dieses Ereignis zum „konterrevolutionären Zwischenfall“ erklärt und hatte sehr konkrete Folgen. Erst kurz zuvor war der von Zhou ausgedeutete Nachfolger Deng Xiaoping rehabilitiert worden. Nun sollte er von neuem in Ungnade geraten und die Viererbande sich mit diesem Datum noch einmal durchsetzen. Aber gleichzeitig trug der „Zwischenfall“ im Oktober desselben Jahres auch zu ihrem Sturz bei.

Vertauscht man nun die Ziffern Vier und Fünf, so kommt man auf ein weiteres wichtiges Datum im Mai 1919. Es war die Phase der sogenannten geistigen Erneuerung, kurz, der Absage an den Konfuzianismus als Leitidee. Am fünften Mai waren die Studenten das erste Mal für Freiheit, Demokratie und Wissenschaft aufgestanden.

Auch die Bewegungen des sogenannten Pekinger Frühlings oder auch der Mauer der Demokratie von 1978 bis 1980 bezogen sich auf die magischen Zahlenspiele um das Qingming-Datum. Damals tauchten viele literarische und politische Zeitschriften auf. Es war die Frühlingsbewegung, die Deng Xiaoping an die Macht verhalf. Und es war Deng Xiaoping, der sie im Frühjahr 1980, als ihre Forderungen für seine Begriffe zu weit gingen, abwürgte.

Diese Bewegung nannte sich auch April-Fünf-Bewegung. Der bis heute inhaftierte Wei Jingshen, einer ihrer wichtigsten Exponenten, wies darauf hin, daß über die angestrebten vier Modernisierungen hinaus eine fünfte notwendig sei: Nicht nur unter Personen müsse ein Austausch stattfinden, sondern ein grundlegender Umbau auf institutioneller Ebene. In seinem Artikel Mehr Demokratie oder neue Diktatur? warnte er bereits am 25.3.1979 in der Zeitschrift 'Untersuchung‘:

„Wir brauchen nur an den Tiananmen-Zwischenfall zurückzudenken. Machte sich die Viererbande nicht die Tatsache, daß ein paar Autos in Brand gesetzt wurden, zunutze, indem sie ihr als Vorwand einer willkürlichen Unterdrückung der revolutionären Bewegung diente? Heute hat Deng Xiaoping einen ähnlichen Vorwand gefunden. Wird er nicht noch schlauere Methoden benutzen, um genau dieselbe Unterdrückung zu veranlassen? Das Volk muß seine Aufmerksamkeit schärfen und darf niemals bereit sein, einem Herrscher zu glauben, der nicht vom Volk kontrolliert oder überwacht wird. Das Volk muß sich vor Deng Xiaopings Verwandlung in einen Diktator in acht nehmen...“

Er sollte recht behalten. Auch Deng hatte die Gefährlichkeit des Elektrikers Wei erkannt und ihm den Prozeß gemacht. Wei Jingshen ist zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt worden.

Schließlich stellte sich die Studentenbewegung des Dezember 1986 in Schanghai - ein Vorläufer der Demokratiebewegung von 1989 - in die Tradition der vorangegangenen. In diesem Jahr versetzte die nervöse Pekinger Führung „Truppen zur Unterdrückung des Aufruhrs“ (Zhen Bho) in Peking, Schanghai, Kanton und Tien Chen in Alarmbereitschaft. Abgezogen wurden sie aus Kontingenten der sogenannten Volksbefreiungsarmee und aus Teilen der bewaffneten Polizei. Der Aufhebung des Kriegsrechts, eine in erster Linie außenpolitisch orientierte Geste, spricht dies allerdings Hohn.

Verschärfter Kontrolle sind auch die Medien unterzogen. Die wichtigste literarische Zeitschrift 'Volksliteratur‘, die dem abgesetzten Kulturminister Wang Meng unterstand, wird unterdessen von einem siebzigjährigen Militärschriftsteller geleitet. Der bekannte Schriftsteller Liu Xinwu, den Konservativen schon immer ein Dorn im Auge, hatte für Wang Maung zunächst die Chefredaktion übernommen und geriet nach dem 4. Juni zunehmend unter Druck, wurde schließlich abgelöst. Viele Zeitungen sind unterdessen geschlossen worden.

In der Emigration artikulieren sich hingegen viele chinesische Schriftsteller und Intellektuelle erstmals wieder in relativer Unabhängigkeit vom Apparat. Da ist die gefälschte 'Volkszeitung‘, deren Headlines im Pekinger Tenor gehalten waren, deren Texte aber aus der Feder der Pariser Opposition stammten. Diese Zeitschrift kam in den Verteiler für vierzehn europäische Zeitschriften, beigefügt war eine Liste mit 1.000 Faxnummern, so daß die Leser die Zeitschriften nach China senden konnten. Die Pekinger Regierung hatte daraufhin alle Hände voll zu tun, gegen Fälschungen zu protestieren. Vor kurzem lief in Frankreich ein Propagandaschiff aus, das vor den chinesischen Hoheitsgewässern oppositionelle Radiosendungen ins Land senden soll. Als Ehrenkapitän posierte Wuer Kaixi. Emigrierte Journalisten senden zudem schon jetzt, vermutlich über bestehende Sendeanlagen, nach China. Darüber hinaus erscheint 'Press Freedom Herald‘, bereits auf dem Tiananmen -Platz verteilt. Der Herausgeber ist in die USA geflüchtet und publiziert dort alle zehn Tage eine Ausgabe. In diesem höchst interessanten Diskussionsforum tauchte auch der Kommentar des amerikanisch-chinesischen Professors Auan Guocun (Columbia University New York) auf. In seinem Artikel Meine Ansichten über die demokratische Beswegung geht er in fünf Punkten kritisch auf die demokratischen Bewegungen im Ausland ein. * * *

Zunächst konfrontiert er zwei Ansätze, die sich unschwer erkennen lassen als jene, die in der Föderation für ein Demokratisches China (FDC) mit Sitz in Paris vorherrschen, und jene der vielen Regionalföderationen. Es gibt in der Pariser Gruppe eine Fraktion, die Reformen innerhalb der Struktur des Einparteiensystems aufheben und damit an die Reformen von Zhao Ziyang anknüpfen will. Auan hält dies für zu kurz gedacht, zumal die Reformer innerhalb der Partei im letzten Jahr weitgehend kaltgestellt worden sind. Die Demokraten im Ausland sollten also klar den Bruch mit der KP vollziehen und sich als wirkliche Opposition innerhalb eines künftigen Mehrparteiensystems verstehen. * * *

Der zweite Punkt betrifft die organisatorische Struktur der verschiedenen Gruppierungen im Ausland. Nach Ansicht Auans sind für die Durchsetzung demokratischer Strukturen in einem zukünftigen China ebensolche Strukturen auch innerhalb der organisierten Bewegung notwendig. Noch immer seien hierarchische Strukturen zu kritisieren. Notwendig sei eine lokere Koordination und der Zusammenschluß der verschiedenen Auslandsgruppierungen. Dabei ist an China Spring gedacht, die in Amerika schon vor 1989 sehr stark war, dann an die neue Föderation Demokratisches China, die starke Föderationen in der BRD, Frankreich, Japan den USA unterhält. In der BRD existiert unabhängig davon eine Gruppierung der Studenten und Wissenschaftler, die sich am 4. Mai vergangen Jahres gründete. * * *

Drittens stellt Auan die theoretischen Grundlagen der Bewegung in Frage. Die Bewegung leiste keine schonungslose Analyse im internationalen Kontext. Denn eine isolatorische Betrachtungsweise sei im Zeitalter der Weltmärkte und Medien zu kurz gedacht. * * *

Viertens spricht er das Wort für Glasnost, es ginge nicht an, daß nur zwei Personen in der FDC die Finanzen kontrollierten und nicht einmal der Vorstand Einblick hätte. Dies ist eine deutliche Kritik an dem Vorzeigekapitalisten Wan Runnan, der von den Pekinger Reformkräften noch lange unterstützt wurde, als er mit dem Geld seiner Stone-Computer -Firma die Demokratiebewegung unterstützte. * * *

Fünftens müssen im Westen sämtliche Regierungen über kurz oder lang eine neue Chinapolitik definieren. Die demokratischen Kräfte im Ausland sollten sich zusammenschließen und deutlicher als bisher über Medien und im direkten Kontakt über Politiker auf ihre Linie hinweisen. Man müsse aus dem Kreis der Studenten und Chinatowns heraustreten und offensiver vorgehen.

Prof. Helmut Martin

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