Im Rahmen des Gewesenen und des Nicht-Mehr

■ Das Berliner Arsenal-Kino zeigt diese Woche in einer Retrospektive die Filme Hans-Jürgen Syberbergs mit Edith Clever / Nächste Woche werden im Hebbel-Theater „Die Marquise von O...“ und „Penthesilea“ vorgestellt / Ein Interview mit dem Regisseur

Klaus Dermatz

Klaus Dermatz: Welches Regiekonzept liegt Ihrer Inszenierung von Heinrich von Kleists „Marquise von O...“ zugrunde?

Hans-Jürgen Syberberg: Man muß „Die Marquise von O...“ im Zusammenhang mit meinen anderen Arbeiten sehen. Davor liegt „Penthesilea“, auch mit Edith Clever, allein auf der Bühne und im Film gespielt, in einer monodramatischen Form. Nun stellt sich der Vergleich zu einer anderen Dramatisierung, zum Film von Rohmer. Für mich ist „Die Marquise von O...“ eine Weiterentwicklung des Bisherigen, aus der „Nacht“, die schon monologisch war, aus der „Penthesilea“. Mit derselben Titeldarstellierin wie bei Rohmer, ist es eine Konfrontation, die ich gesucht habe gegenüber einem Mann, den ich schätze, den ich sehr schätze. Eine Konfrontation auch aus deutscher Sicht im Gegensatz zu Rohmer, der seinen Film vor 14 Jahren mit sehr viel Sympathie für Deutschland und die deutsche Literatur gemacht hat, mit mehr Sympathie als die Deutschen damals mit sich hatten. Und an diesen Voraussetzungen gemessen, mußte man meine „Marquise von O...“ sehen.

Eingebettet ist „Die Marquise von O...“ in einen melancholischen Grundton, durch das Laub auf der Bühne, einem Topos der Melancholie, den Sie auch schon in „Hitler, ein Film aus Deutschland“ verwendet haben.

Da haben Sie gut aufgepaßt. In der „Marquise von O...“ kommt das Laub aus den letzten Worten der „Penthesilea“, die wir hier an den Anfang gesetzt haben. Am Anfang sitzt Edith Clever am Tisch mit dem Schlußmonolog aus der „Penthesilea“. Und da geht es um die Epoche, die, wenn sie stark ist, fallen muß, von den Wunden des Schicksals gebeutelt, und durch dieses Bild der Eiche kommen wir zu dem Laub, zu Eichenlaub, was mir besonders gefällt, weil diese Geschichte von mir in den Rahmen des Gewesenen und des Nicht-Mehr gestellt wird, wobei ich nicht die Orte meine, die von mir für diese Inszenierung gewählt wurden, das Berliner Schloß das nicht nur im Krieg zerstört wurde, sondern auch nach dem Krieg durch die Ulbrichts - und das Landschloß der Marwitz an der Oder, wo Kleist eben auch war, sondern das Nicht-Mehr des Kleist. Ich bin der Meinung, daß Kleist wie diese Schlösser keine Chance mehr hat, ausgerottet ist. Ich glaube nicht, daß Kleist heute noch auf der Bühne stattfindet.

Sie bringen ihn doch selbst auf die Bühne. Wo soll er sonst stattfinden?

Ich glaube, daß die heutigen Leute mit Kleist ihre große Mühe haben müssen und auch haben, weil die Welt Kleists eine ist, die heute gar nicht mehr zugänglich sein kann. Sprachlich nicht, in der Figuration nicht. Die Schauspieler haben große Mühe damit, man könnte sie vielleicht leiten, man sieht's ja an Edith Clever, wenn man sich Mühe gibt, kann man schon etwas erreichen. Auch dem Publikum kann man etwas abverlangen, wenn man ihm etwas intensiv vorführt, aber ich glaube nicht, daß die Regisseure und Dramaturgen sich Mühe geben wollen. Ob sie fähig dazu sind, ist noch eine ganz andere Frage, aber sie wollen es auch gar nicht.

Um zur Melancholie zurückzukehren: Am Ende der Inszenierung hebt Edith Clever ein Laubblatt auf, sieht es an und läßt es dann über ihre Finger gleiten. Die Melancholie als letzte Gefühlsregung?

Am Ende des Hitler-Films gibt es auch dieses Laub. Andre Heller geht durch und spricht über das Ende Europas, seiner Größe und seiner alten Werte. Er spricht von Ehre und Pflicht, Dinge, die auf die Inszenierung der „Marquise von O...“ hinweisen, ohne daß ich wußte, daß ich so etwas machen werde. Ich wußte damals nicht, wie es weitergehen soll, schon „Parsifal“ war mir sehr weit weg, und um hierher zu kommen, brauchte es Jahre, über zehn Jahre. Sie haben recht, es gibt da Parallelen, die in eine Linie führen.

Verstehen Sie Ihre Inszenierung als theatralische Umsetzung von verlorener Unschuld und dem Wunsch nach Erlösung?

Ich sehe ja keine Lösung mehr; außer daß man seine Dinge macht, die man machen kann. Ich glaube nicht, daß die Welt, die wir um uns haben, in der Lage ist, sich aus der Malaise zu befreien. Ich sehe weder eine Partei noch Menschen oder einen Menschen oder eine Ästhetik, die herausführen kann. Ich kann nur versuchen, mit den Mitteln, die man uns zur Verfügung stellt, etwas zu machen, was unserer Meinung nach richtig ist. Aber ich glaube nicht, daß das darüberhinaus von rettender und erlösender Wirkung ist.

In Bezug auf Ihren Hitler-Film waren Sie noch der Ansicht, daß von Kunst eine Reinigung, eine Heilung ausgehen könnte.

Ich weiß gar nicht, ob ich das damals geglaubt habe, vielleicht mehr als heute. Aber ich habe gedacht, daß ich selbst eine Stellung in der Gesellschaft anstrebe, aber heute tue ich es nicht mehr. Es gibt so etwas, was man gern sein möchte, wofür man gelobt sein will, was man erreichen will. Das ist mir heute alles egal und verdächtig.

Ist die programmatische Erklärung - Politik durch Kunst -, die Sie in der „Freudlosen Gesellschaft“ vertraten, hinfällig?

Ja, das war eine idealisierte Lebensform, die ich heute überhaupt nicht mehr teile. Das war eine seltsame Geste, die ich heute selbst belächle. Auch wenn ich „Die Marquise von O...“ mache und die Leute kommen, würde mich das nicht davon abbringen von dieser Meinung, als sei dies ein Anzeichen von etwas Neuem. Die Kunst ist tot, so wie wir sie kennen. Das ist alles Abgesang im Tode.

Theater als moralische Anstalt hat sich auch erledigt?

Nein, das glaube ich nicht. Es ist etwas sehr seltsames, daß man es trotzdem tut. Das ist ein Trieb, aber ich glaube nicht, daß es von irgendeiner Wirkung wäre, auf andere Kollegen, auf andere Theater. Nicht einmal in der schmalen Ecke der Kultur unserers Pluralismus kann meine Arbeit etwas bewirken.

Künstlerisches Schaffen als letztes Refugium?

Am liebsten wäre mir, wenn es still wäre. Den Begriff des „stillen Museums“ liebe ich sehr. Das sind Museen, die nicht werben, wo keine Schlangen davor stehen, die eigentlich nichts zeigen.

Was sollte Kultur leisten?

Etwas sehr Indiviuduelles, das hat nichts mit der Betriebsamkeit der Geschäfte zu tun. Ein Markt, wo sich frei, an verschiedenen Stellen, Gruppen bilden, der war ja immer interessant, das war ja ein sehr schöner Topos für Leben. Heute ist alles organisiert. Sowie etwas entsteht, kommen Leute, machen etwas daraus, und dann ist es schon wieder zerstört. Dann muß man schon wieder verschwinden, man weicht eigentlich immer nur aus. Man will, daß die Leute es wissen, aber gleichzeitig will man nicht, daß ein Strom entsteht, der durch Lärmen die Stille zerstört. Das ist eine sehr schwierige Waage, auf der man sich da befindet. Natürlich will ich, daß in den Zeitungen ein Echo kommt. Eine Antwort wie Leben.

Suchen Sie Verbündete?

Nicht jeder liest ein lokales Blatt, also braucht man eine überregionale Zeitung. Da muß man schon gewisse Strategien weiter im Auge haben, das hat auch ein Thomas Bernhard gekannt: Einerseits den Horror vor der Öffentlichkeit und andererseits konnte er mit der Öffentlichkeit ganz gut spielen.

Sie lehnen das Spiel mit der Öffentlichkeit doch ab.

Ach Gott, das hat Thomas Bernhard doch auch abgelehnt.

Thomas Bernhard hat es aber doch auch gerne getan.

Ja, aber er hat darunter gelitten, sehr gelitten. Aber er brauchte es auch.

Sie sehen die Wahlerfolge der Rechten nur als eine Form des Protestes, aber nicht mehr in einer analytischen Dimension?

Der Protest hat ja seinen Nutzen, seine Gründe. Es ist interessant, daß es nicht nur in Österreich so ist, sondern auch in anderen europäischen Ländern. In Österreich ist es nur deutlicher durch die Person Waldheims zu sehen. Das hat wohl damit zu tun, daß die westlichen Demokratien, aber nicht nur die, sich sehr müde gelaufen haben, und die Leute das erkannt haben. Auch Amerika ist in keinem guten Zustand und Rußland schaut in einem marxistischen Sinne nicht gut aus. Gobatschow ist kein typischer Marxist, sondern eine singuläre Figur, von der man nur hoffen kann, daß sie lange bei Kräften bleibt, aber sie hat viel weniger weltbeherrschende Kraft als ein amerikanischer Präsident. Man muß sich einmal vorstellen, man hätte heute einen Gorbatschow im Weißen Haus, eine starke Persönlichkeit, mit revolutionärem Gedankengut. Aber so eine Figur haben wir nicht und kann nicht gewählt werden, weil westliche Systeme das verhindern.

Für dieses neue Aufleben rechter Ideologie gibt es keine gesellschaftliche Heilung?

Das halte ich für eine sterbende Erscheinung. Da ist keine Figur, die von Interesse wäre. Als interessante Bewegung des Protestes weckt sie mein Lachen, aber nicht meine Aufmerksamkeit, als Gegner nicht interessant, kraftlos, genau wie die Grünen. Sie sägen mögliche Führungsfiguren immer ab; sowie einer kommt, der ein bißchen Profil gewinnt, wird er abgesetzt, aber dadurch kann sich nichts bilden, nichts wachsen, keine Autorität, keine Opferbereitschaft. Das kann nicht passieren, alles wird weggestoßen von den Nachdrängenden, die aufräumen wollen. In der Vegetation, im Tierreich kann man viele Beispiele aufführen, die beweisen, daß so etwas zu einer Minderpopulation und zum Absterben des Lebens führt.

Verstehen Sie Ihr künstlerisches Schaffen aus einer christlichen Erlösungssehnsucht?

Nein.

Die Frage der Erlösung thematisieren Sie ständig.

Das ist nicht christlich gemeint. Es ist so, daß Kleist in der „Marquise von O...“ gewisse Dinge darstellt, die er in der Realität nicht erfahren hat. Und damit rettet er sich in die Kunst. Das hat ihn am Schluß seines Lebens auch nicht gerettet, weil er es nicht ertragen konnte, daß seine Kunstwelt nicht akzeptiert wurde. Erlösung von Seiten verständnisvoller Mitmenschen, Familienangehörigen ist Kleist in der Realität nie begegnet. Daß der Graf von der Marquise akzeptiert wird, ist vielleicht nur in der Kunst möglich. Da befindet man sich auf einem schmalen Grat, wo man sich sagt, es ist unerträglich oder es ist Kitsch. Oder es sind die heiligen Wirkungen der Musik oder der Sprache.

Würden Sie mit Horkheimer übereinstimmen, der am Ende seines Lebens gemeint hat, nur noch ein Gott kann uns erretten.

Das ist alles verspielt. Es gibt nicht einmal einen Messias, auf den man wartet. Es gab viele Zeiten, wo man heillos herumgeirrt ist und auf einen Messias gewartet hat. Das ist weg. Die Menschen sind nicht mehr bedürftig, sie erleben keinen Mangel mehr. Sie werden ja, das ist das Teuflische, sofort mit Bedürfnisbefriedigung vollgefüllt. Nach dem Krieg war es so, daß die Leute gehungert haben, gefroren haben, arm an der Seele waren, durch Verluste verschiedenster Art. Heute sind sie reich, die Leere besteht im Reichtum, darin besteht die Verführung. Die Folge davon sind Seelenkrankheiten. Und von der Heilung der Neurosen lebt die Kulturindustrie.

Und Selbstmord?

Das ich nicht meine Natur, das ist für mich eine theoretische Frage, eine Spielfigur des Gedankens.