: Politische Forderungen und ihre Grenzen
■ betr.: Rumänien, taz vom 4.4.90
In Ihrer Zeitung vom 4. April 1990 haben Sie den Budapester Attila Ara-Kovacs zitiert, der unter anderem feststellte: „Rumänien kann nicht in seiner jetzigen Form existieren. Die Grenzen müssen verändert werden, oder es wird hunderttausend Opfer in einem Bürgerkrieg geben.“
Mich erfüllt es mit großer Sorge, wenn ich solche Aussagen beziehungsweise Aufrufe zur Revision des territorialen Status quo in Europa lesen muß. Die Grenzen, die heute zwischen Rumänien und Ungarn bestehen, in Frage stellen, bedeutet die Grenzen in Europa in Frage zu stellen! Ich weiß nicht, wem das dienen soll. Die Völker Europas streben offensichtlich ein friedliches Europa an. Solche Forderungen widersprechen den Bestrebungen der Völker dieses Kontinents, die den Frieden als eine Grundbedingung für ihre weitere Existenzsicherung betrachten und ihn durch Zusammenarbeit gestalten wollen. Forderungen nach einer Revision der Grenzen sind nur dazu angetan, Unsicherheit, Mißtrauen und Instabilität in die zwischenstaatlichen Beziehungen hineinzutragen und die vielfältigen Prozesse in Frage zu stellen, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten schrittweise für Frieden und Sicherheit in Europa vorangebracht wurden.
Solche revisionistischen Forderungen zurückzuweisen erfordert zugleich, alle Aspekte der Nationalitätenpolitik in Rumänien und das Verhältnis zwischen Rumänien und Ungarn sachlich und mit Verantwortungsbewußtsein zu betrachten. Die kürzlichen Ereignisse von Tirgu Mures haben uns mit ihren tragischen Vorfällen erneut die ganze Brisanz des Problems vor Augen geführt.
Die Ursachen für diese Situation liegen aber in Rumänien und im zwischenstaatlichen Verhältnis Ungarn-Rumänien in den Grenzfestlegungen, wie sie völkerrechtlich verbindlich heute bestehen.
Unbestritten ist, daß die Politik der Ceausescu-Diktatur auch für die Nationalitäten in Rumänien nur schwer ertragbare Folgen hatte. Die Ursache dafür ist in der Verschärfung der inneren Widersprüche in Rumänien zu suchen. Die Wirkungen mußten von allen nationalen Minderheiten ertragen werden.
Bei der Herausbildung des Nationalismus in Rumänien spielte der Wille der Ceausescu-Führung eine besondere Rolle, dem rumänischen Patriotismus eine verstärkt historizistische Begründung zu geben, damit er für die Erreichung eigensüchtiger Ziele nach innen und nach außen eingesetzt werden. Der Nationalismus begann das politische Leben zu prägen.
Eine wesentliche Funktion hatte diese Erscheinung Mitte der 60er Jahre im Verhältnis Rumäniens zur Sowjetunion zu erfüllen, das von einem prononcierten Unterstreichen der Eigenständigkeit Rumäniens gekennzeichnet war. In diesem Zusammenhang wurde die rumänische Geschichtsbetrachtung so einseitig zurechtgeschneidert, daß sie für die Untermauerung dieser Politik und für die Mobilisierung der Menschen, diese Politik zu unterstützen, eingesetzt werden konnte.
Es zeigt sich aber auch in diesem Falle, daß Nationalismus nicht partiell und zeitweise politisch eingesetzt werden kann. Einmal mit einem bestimmten Ziel gezüchtet, greift er unter bestimmten Bedingungen um sich und erfaßt alle Bereiche der inneren Entwicklung und auch der Außenpolitik. Diese Eigendynamik führte unter anderem dazu, daß die rumänische Nationalitätenpolitik gegenüber allen Minderheiten vom Nationalismus geprägt war. Die einseitige Hervorhebung des Rumänischen in Geschichte und Gegenwart mußte sich folgerichtig dahingehend auswirken, daß die Bedingungen für die nationalen Minderheiten, ihre Sprache, Kultur und insgesamt ihre Entwicklung als national-ethnische und -kulturelle Gemeinschaften zu pflegen, schwieriger wurden. Die ungarische Minderheit hat als die größte und kompakt zusammenwohnende Minderheit die Folgen der restriktiven Politik besonders stark empfinden müssen. In unmittelbarer Nachbarschaft zu Ungarn lebend, hinterließen die zunehmenden Restriktionen für Verwandtenbesuche in beziehungsweise aus Ungarn, für den Bezug von Zeitungen und anderen Druckerzeugsnissen aus Ungarn, die Möglichkeit, nur einmal im Quartal ins Ausland, daß heißt auch nach Ungarn zu erschwinglichen Kosten telefonieren zu können usw. ein besonders stark ausgeprägtes Gefühl, nationaler Diskriminierung ausgesetzt zu sein. Dabei zeigt sich, daß solche nationalen Spannungen stets mit besonderer Sensibilität ausgetragen werden, daß heißt, daß es nicht nur darum geht, wie die Verhältnisse tatsächlich sind, sondern auch darum, wie sie sich im nationalen Bewußtsein oder gar Unterbewußtsein widerspiegeln. Im Endeffekt führt die Verstärkung des Nationalismus bei Teilen der Mehrheitsnation auch zu einer Verstärkung des Nationalismus der Minderheit.
Die zunehmende Verschlechterung der Lebenslage der Bevölkerung Rumäniens, vor allem der Versorgung mit Grundnahrungsmitteln und mit Waren des täglichen Bedarfs verschärfte die schon bestehenden Widersprüche in vielfältiger Weise.
In diesem wachsenden Spannungsfeld entwickelte sich der Streit zwischen Ungarn und Rumänien um die Interpretation der Geschichte in den 70er Jahren zu einer Auseinandersetzung um die aktuelle Nationalitätenpolitik in Rumänien. In den 80er Jahren weitete sich diese Auseinandersetzung dermaßen aus, daß sich die Politik auch auf Grundfragen des Gesellschaftskonzepts und des Demokratieverständnisses in dem jeweils anderen Land ausweitete.
Das behandelte Konfliktpotential zwischen Ungarn und Rumänien erweist sich als zählebig und unter bestimmten inneren und äußeren politischen Bedingungen immer wieder reaktivierbar. Bei weiterer Zuspitzung innerer Widersprüche in beiden Ländern beziehungsweise in einem von ihnen kann dies auf sie zurückwirken und die Widersprüche weiter verstärken.
Die hier fragmentarisch genannten Faktoren verdeutlichen aber, daß die Ursachen nicht in den heutigen Grenzen liegen. Sie liegen in einer bestimmten Art von Politik, die durch eigensüchtige Ziele und durch die Mißachtung der Menschen und derer kulturellen und anderer Bedürfnisse hervortrat. Mit dem Sturz der Ceausescu-Diktatur sollten deshalb von allen Kräften, denen ein friedliches Zusammenleben der Völker wichtig ist, Anstrengungen unternommen werden, um ein Wiederaufleben solcher Politik zu vermeiden. Die Aufrufe des Herrn Attila tragen nicht dazu bei. Sie enthalten die Gefahr, diesen Konflikt zu internationalisieren und die europäischen Friedensprozesse zu gefährden.
Prof. Dr. sc. Anton Latzo
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