: Große Linien für Boccanegra
■ Verdis Musiktragödie in Köln
Guiseppe Verdis Oper Simone Boccanegra (1857 in Venedig uraufgeführt, 1881 mit Erfolg überarbeitet) hielt Eduard Hanslick für ein zwiespältiges Gebilde: dem Libretto fehle die „spannende zusammenhängende Handlung“, die Musik des Prologs und des 1. Aktes sei auf der Höhe der Zeit gewesen, aber „was in den beiden letzten Akten folgt, sind fast lauter bekannte Melodien, konventionelle Phrasen, verbrauchte Effekte“. Das Werk aus der Zone der verbrauchten Effekte zu holen - das war in Köln die Erwartung an den Regisseur John Dew und den Bühnenbildner Gottfried Pilz. Dabei erfuhr das Regieteam durch die Musiker wirksame Unterstützung: Der neue Chefdirigent der Kölner Oper, James Conlon, veranlaßte das Gürzenich-Orchester zu einer von ihm schon seit geraumer Zeit nicht mehr gebotenen Präzision. Freilich stellen sich beim Zusammenwirken von Graben und Bühne noch eine Reihe von Problemen ein; mehrfach stiegen Sänger aus, und man mogelte sich durch Conlons sportiven Elan wieder zusammen.
Der bei früheren Besuchen dieser Verdi-Oper gewonnene Eindruck, daß sie in besonderem Maß zum Modell der Filmmusik in Hollywoods heroischen Jahren wurde, verdichtete sich jetzt angesichts der Kölner Inszenierung. Das Textbuch versammelt all jene Klischees, aus denen Erfolgsstorys nun einmal gefertigt sein müssen: eine politische Konstellation, die fast bis zur Unkenntlichkeit der Parteiziele von Leidenschaft, Ehrgeiz, Eifersucht und Rachegelüsten überformt ist; eine von der Männerwelt begehrte höhere Tochter (im Hause des Fürsten Grimaldi, das bis heute mit seiner in Monte Carlo residierenden Linie für öffentliches Aufsehen sorgt); Irrungen und Wirrungen der Herzen und Gemüter in wechselnden Mischungen.
Amelia Grimaldi entpuppt sich als Findelkind und dann gleich noch einmal, o Wunder, als Simon Boccanegras Tochter (aus der illegitimen Beziehung mit Maria, der Tochter des Patriziers und zaudernden Verschwörers Fiesco); sie gerät in den Konflikt zwischen leidenschaftlicher Parteinahme für den Geliebten, den Aristokraten Adorno, und Liebe zum wiedergefundenen Vater, der vom Plebejer zum Korsarenkapitän in den Diensten der Stadtrepublik Genua und schließlich zu deren Dogen (und Diktator) aufstieg. Da deutet sich dann auch ein analytisches Lehrstück an (doch Dew ließ diesmal bei der Darstellung des Frauenbildes eher Diskretion walten). Da Maestro Verdi dieser Story eine raffinierte Synthese aus bewährten, hitverdächtigen Melodien und einem differenzierten Orchesterpart zuschrieb, der eine für ihn damals neue Hinwendung zur Ästhetik Liszts und Wagners signalisierte (was zunächst Irritation und Ablehnung auslöste), entstand eben jene delikate Melange, welche die Vorbildwirkung für die spätere Filmmusik begründete.
Auf die Sphäre von Film und TV bezog sich die Bebilderung der Oper durch Pilz und Dew von Anfang an. Mit der Installation von Spezialspiegeln eröffnet Gottfried Pilz dem Dunkel der Geschichte korrespondierend - einen nur sparsam ausgeleuchteten, vieldeutigen Bühnenraum, modifikationsfähig und doch für alle vier Bilder einheitlich strukturiert durch die beiden dominanten Raumdiagonalen. Die Wände unter diesen Diagonalen deuten mit raffinierten Lichtreflexen zunächst eine finstere Gasse in der Nähe des Hafens von Genua an: roter Widerschein von Feuer, Vorschein des plebejischen Aufruhrs.
Die Reflexe gewinnen ihre Form durch den unterschiedlichen Wölbungsgrad der Kunststoffplatten: Figurationen einer künstlichen Welt, in der irritierend das Naturhafte aufscheint. In anderem Licht und mit einer rasch vorgebauten Terrasse fungieren die beiden diagonalen Wände als Rahmen einer Welt der Reichen - unbeschwert sitzen auf den Spiegelplatten die luftigen weißen Wölkchen. Alles atmet in Blau, und die Wellen kräuseln sich darunter. Der sich weitende und verengende V-Ausschnitt des Himmels deutet allemal an, was die Stunde geschlagen hat. Indem auch das Firmament verspiegelt wird, reflektiert er die Turbulenzen einer Ratssitzung von 1339, die anbrechende Revolte und das schillernde politische Meisterstück des Dogen Boccanegra.
Grandios das Schlußbild: eine Abschiedsstimmung vor der Weite des Meeres - die beiden Diagonalen weisen jetzt als Parallelen ins Unendliche. Eine Lebensabendszene der beiden großen alten Herren Fiesco (der nach einem Vierteljahrhundert Verbannung unsäglich verbittert bleibt) und Simon (der bereits das langsam wirkende tödliche Gift im Leib spürt). In der Trostlosigkeit dieser von den Spuren der Verwüstung noch gekennzeichneten Strandpromenade deutet sich die Hoffnung an, daß nach dem Wüten des Tyrannen und des Bürgerkriegs eine bessere Zukunft blühe.
Der Regisseur John Dew, mehr als ein Jahrzehnt lang das Enfant terrible des westdeutschen Musiktheaters, hat längst das Theater als auch moralische Anstalt wiederentdeckt und macht es jetzt einem auf Klassizismus eingestimmten Publikum recht. Das Maß der Zumutungen, die er bereitete, ist herabgesetzt. So geradlinig, wie es das von Boito überarbeitete Libretto des Francesco M. Piave nur zuläßt, stellte er eine Geschichte als nicht bloß historische dar. Zum ersten Mal hatte ich den Eindruck, sie verstanden zu haben.
Frieder Reininghaus
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