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Wie lange hält die Sowjetwirtschaft durch?

■ Blockadeaktionen gegen Litauen gehen weiter / Engpässe in der Energieversorgung / Landsbergis: Litauen kann 100 Jahre überleben / Gorbatschow: Wirtschaftsreformen „bedeutendste Wende seit Oktoberrevolution“ / Wlassow: Wirtschaft an „kritischem Punkt“

Berlin (taz) - Im Zuge der andauernden Sperrung sowjetischer Öl- und Gaslieferungen nach Litauen werden in Vilnius immer selbstbewußtere Töne laut. Präsident Landsbergis erklärte am Donnerstagabend, man könne „100 Jahre ohne Gas und Öl durchhalten“. Mit der Blockade würde auch Moskau „Verluste erleiden“, da die Sowjetwirtschaft sich „am Rande der Krise“ befinde. Moskau versetze sich jetzt „Schläge auf den Kopf“. Ministerpräsidentin Prunskiene wertete in Oslo die Blockade als faktische Anerkennung der litauischen Unabhängigkeit mit den Worten: „Man boykottiert nicht sein eigenes Land“.

Der litauische Ministerrat bildete unterdessen eine Kommission zur Kontingentierung und Verteilung eingeschränkt gelieferter Güter. Energieminister Asmantas erklärte, zuerst von der Knappheit betroffen seien 96 unionseigene Betriebe sowie die Stützpunkte der Streitkräfte. Priorität in der Energieversorgung genießen nach seinen Worten die Krankenhäuser. Ein Wasserkraftwerk bei Kaunas garantiere die Aufrechterhaltung der Elektrizitätsproduktion.

Am Freitag wurden die Folgen der sowjetischen Maßnahmen immer deutlicher. Brazauskas teilte mit, daß Metall, Maschinenersatzteile, landwirtschaftliche Maschinen, Schmieröle und vieles andere nicht mehr in die Republik geliefert würde. „Jeder Tag, jede Stunde bringt neue schwarze Nachrichten“, sagte er. Die Heizungen in den Häusern seien abgestellt, jeder Autobesitzer erhalte maximal 30 Liter Benzin im Monat. Vorhandene Energiereserven müßten vor allem zur Aufrechterhaltung der in diesen Tagen beginnenden Frühjahrsaussaat in der Landwirtschaft bereitgehalten werden.

Aber nicht nur die litauische Wirtschaft steht vor düsteren Zeiten. Nach Ansicht des Regierungschefs der Russischen Föderation, Alexander Wlassow, ist die politische und ökonomische Situation der Union an einem kritischen Punkt angelangt. In einem Interview mit 'Sowjetskaja Rossija‘ konstatierte er ein Nachlassen im Kampf gegen den Bürokratismus und befürchtete, eine „neostalinistische“ Variante der Kommandoadministration stünde bevor. Es sei nicht zu übersehen, daß „bei uns parallel zur Machtstruktur Neoapparatschiks auftauchen“. Es gebe auch kein Modell für die angestrebte regulierte Marktwirtschaft.

Gerade der Übergang zu dieser regulierten Marktwirtschaft ist jedoch, wie jetzt bekannt wurde, am Mittwoch von Gorbatschow als bedeutendste Wende seit der Oktoberrevolution bezeichnet worden. Vor dem Präsidialrat sagte er: „Wir dürfen nicht zögern und schwanken. Doch ebenso zweifelsfrei ist auch etwas anderes. Auf dem Wege zur regulierten Marktwirtschaft müssen wir auch eine Reihe von Etappen zurücklegen, nachdem wir alle Folgen der in diese Richtung zu unternehmenden Schritte durchdacht und einen zuverlässigen Mechanismus für den sozialen Schutz der Bevölkerung, insbesondere der wenig gesicherten Schichten, ausgearbeitet haben“. Konkrete Maßnahmen würden noch diskutiert, wobei psychologische Faktoren und regionale Unterschiede zu beachten seien.

D.J.

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