: Liegeräder: Eine Landpartie auf dem Gartenstuhl
■ BastlerInnen setzen neue Maßstäbe in der Fahrrad-Kultur / Geschwindigkeiten über 100 Stundenkilometer
Der 17-jährige Schüler Cevin Czisch konnte beim Basteln aus dem vollen schöpfen: Insgesamt drei Fahrräder zersägte er fachgerecht und baute sich aus den Einzelteilen der massakrierten Drahtesel einen kleinen Traum. Sein Liegerad, ein Centaur aus BMX und Tourenrad mit einem ausrangierten Gartenstuhl als Sattel, trägt ihn jetzt ohne große Kraftanstrengung flott durch die Hansestadt. Die Körperhaltung auf dem extrem flachliegenden Fahrrad erinnert an eine Kombination aus Sonnenstuhl und Heimtrainer. Fünfzig Arbeitsstunden werkelte Czisch an seinem Gefährt, und dann war noch eine Stunde lang Sitzen üben angesagt: Schließlich mißt der Flitzer knapp vier Meter in der Länge und will gesteuert werden: Die Lenkung sitzt beim Liegerad unter dem Stuhl.
Cevin Czisch liegt im Fahrrad-Trend. Ein Sonnen-Sonnabend -Blick auf den Osterdeich, Bremens Champs-Elyses für FahrradfahrerInnen, kürt das Liegerad eindeutig zum Renner der kommenden Bike-Saison. Vom kleinen, aber feinen Selbstgebauten bis zum 3.000 Mark teuren Zweit-Rolls-Rad sausen die stolzen Besitzer von Bremens erster Promenaden -Piste mit Vorliebe auf lange Touren hinaus in freie Fahrrad -Wildbahn. Vierzig Stundenkilometer erreichen die Rad
lerInnen ganz locker ohne Keuchen und schweißnasse Stirn, und bei dem Sitzkomfort ist das Fahren lange auszuhalten. Peter Ronge vom Münsteraner Liegeradhersteller „Radius“ lobt sein Produkt ausdrücklich für die lange Distanz: „Ich kann mir wenig schlimmeres vorstellen, als auf einem Rennrad lange Strecken zu fahren. Beim Liegerad ist das in entspannter Haltung über
haupt kein Problem.“ Tagestouren bis 300 Kilometer prophezeit er dem geübten Liegeradfahrer ohne die ebenso lästigen wie schmerzhaften Körperdeformationen einer ausgedehnten Rennrad-Tour. Und seine Botschaft kommt an. 700 Räder bauten die zwölf MünsteranerInnen im letzten Jahr in Handarbeit und erzielten damit eine Zuwachsrate von 200 Prozent gegenüber dem Vor
jahr. Und auch für Geschwin digkeitsfanatiker ist das Liegefahrrad interessant: Voll ausgefahren bringt es der lange Stahlesel locker auf 100 Stundenkilometer.
Bereits im letzten Jahrhundert tauchen sie als aerodynamische Alternative zum Hochrad auf. Die Flachrenner sollten mit weniger Luftwiderstand und optimiertem Krafteinsatz vor allem auch
durch die Aktivierung der Rückenmuskulatur bei tiefer Sitzlage ein schnelleres Fortkommen sichern. 1914 baute Peugeot die ersten Liegeräder in Serie, 1920 entwickelte das Stuttgarter Hesperus-Werk ein Sesselfahrrad, das in den zwanziger Jahren zum Verkaufsrenner avancierte. Und obwohl die gemütlichen Sesselsitzer jedem gesäßquälendem Renner damals schon Schneid und Geschwindigkeit abkauften, verschwanden sie zu Beginn der dreißiger Jahre wieder aus dem RadlerInnenbild. Über Amerika feierten die bequemen Zwei - bis Dreiräder ihren erst schamhaften, jetzt triumphal werdenden Wiedereinzug in die Geschichte der Fortbewegungsmittel.
So günstig Liegeräder im Kraft-Geschwindigkeitsverhältnis und in der Aerodynamik auch sein mögen (nach einem Test der Zeitschrift „Spectrum der Wissenschaft laufen Liegeräder bei gleichem Kraftaufwand fünf Stundenkilometer schneller als Tourenräder), so problematisch ist ihr Einsatz im Stadtverkehr. Zum einen verhindert der enorm weite Kurvenradius die nötige Beweglichkeit, zum anderen werden die flachen Flitzer von AutofahrerInnen leicht übersehen: Wer mit dem Hintern knapp über der Fahrbahn jongliert, entgeht jedem Rückspiegel. Markus Daschne
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