Entscheidung beim Kampf gegen die Uhr

■ Tour-Stimmung am Ende der Niedersachsenrundfahrt / Thomas Liese (DDR) Gesamtsieger

Einbeck (taz) - Spannender hätte kein Drehbuchautor das Finale der 14.Niedersachsenrundfahrt für Radamateure inszenieren können. Erstmalig hatten sich die Verantwortlichen zu einer ähnlichen Streckenführung entschlossen wie bei der letztjährigen Tour de France, als Greg LeMond im Zeitfahren auf den Straßen von Paris dem Franzosen Fignon den bereits sicher geglaubten Gesamtsieg noch streitig machte. Der Rundfahrtsieg sollte erst in allerletzter Sekunde, beim Kampf gegen die Uhr, im Einzelzeitfahren entschieden werden.

Doch auf den knapp zwanzig Kilometern rund um Einbeck ging es nicht ganz so knapp zu wie beim französischen Profispektakel. Der Pole Zbigniew Piatek ging als Träger des Gelben Trikots mit einem Vorsprung von 25 Sekunden auf seinen schärfsten Widersacher Thomas Liese in die letzte Prüfung. Doch mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks spulte der 22jährige Leipziger sein Pensum herunter und lag im Ziel 1:06 Sekunden vor Piatek, was ihm den Gesamtsieg nach 1.500 Kilometern quer durch Niedersachsen bescherte. Ein vertrautes Bild für die Bahnspezialisten aus der DDR, die damit bereits zum dritten Mal in Serie den Straßencracks das Nachsehen gaben. Nach den heutigen Profis Olaf Ludwig (1981) und Uwe Ampler (1985) sowie den auch in diesem Jahr teilnehmenden Dirk Meier (1988) und Carsten Wolf (1989) ist Liese bereits der fünfte Sieger aus der DDR in der 14jährigen Geschichte der Rundfahrt. Zum erstenmal wurde auch eine Rundfahrt der Frauen ausgetragen, die von der Niederländerin Leontien van Moersel gewonnen wurde.

Für die Bahnasse aus der DDR, die mit ihrem kompletten Vierer (Liese, Blochwitz, Wolf und Fulst) antraten, der im letzten Jahr in Chambery den WM-Titel holte, bedeutete die schwere Straßenprüfung nur eine Trainingseinheit unter erschwerten Bedingungen. Alljährlich holen sich die Pistenflitzer aus Ost-Berlin und Leipzig im Frühjahr in schweren Straßenprüfungen die notwendige Härte für die internationalen Bahnrennen im Sommer.

Zwar fiel der Sieg der DDR-Fahrer in diesem Jahr nicht so souverän aus wie im letzten Jahr, als man mit Wolf, Liese und Miere die ersten drei Plätze in der Gesamtwertung holte, doch der Sieg in der Mannschaftswertung und fünf Tagessiege legen Zeugnis davon ab, wer im Teilnehmerfeld die Fäden in der Hand hatte. Allen voran der 25jährige Ostberliner Carsten Wolf, der durch seine enorme Spurtkraft vier Tagessiege für die „Grauhemden“ herausfuhr. Die entschärfte Streckenführung dieser Rundfahrt begünstigte aber vor allem Thomas Liese, dessen Stärken im Flachland liegen: „Die Rundfahrt lag mir vom Profil her, da in diesem Jahr die schweren Steigungen des Harzes nicht dabei waren. Außerdem hatten wir durch die politischen Veränderungen fast überall ein Heimspiel.“

In Abwesenheit der bundesdeutschen Straßenelite, die wie schon vor zwei Jahren einen Start im wärmeren Frankreich bei einem Open-Rennen mit Profis vorzog, mußten die einheimischen Bahnnationalfahrer im direkten Vergleich mit der Konkurrenz aus der DDR antreten. Ohne zu enttäuschen, es gab Tagessiege durch die Stuttgarter Uwe Messerschmidt und Michael Glöckner, blieb für die Schützlinge von Bundestrainer Wolfgang Oehme im internen Vergleich nur der zweite Platz. Bezeichnend auch, daß der Regensburger Alex Kastenhuber aus der Regionalmannschaft Bayern als elfter bester Bundesdeutscher in der Gesamtwertung war. Die Kluft zwischen den Bahnfahrern aus der DDR und der Bundesrepublik ist nach wie vor gewaltig. Für die BRD gilt so weiterhin das Prinzip Hoffnung: Warten auf einen Nachfolger des bisher einzigen Siegers der Rundfahrt, Peter Becker, anno 1978.

Peter Mohr