: Divide et impera - die KPdSU vor der Spaltung
Trotz der scharfen Töne aus dem ZK offenbart die Partei ihre Handlungsunfähigkeit / Rechter und linker Flügel streben auseinander Nur Gorbatschow hat sich wieder einmal noch nicht endgültig festgelegt / Das Ansehen der Partei in der Bevölkerung sinkt dramatisch ■ Aus Moskau K.-H. Donath
„Wenn Gorbatschow uns vorhält, wir plädierten für die Wiedereinführung des Kapitalismus, dann weiß er genau, daß es im Bewußtsein unserer Menschen keinen schwerwiegenderen Vorwurf gegen uns geben kann“, meint Watscheslaw Schostakowski, stellvertretender Vorsitzender der demokratischen Plattform, dem Sammelbecken radikaler Reformer innerhalb der KPdSU. Noch leitet der 52jährige Professor für Gesellschaftswissenschaften die Moskauer Parteihochschule in der Gottwaldstraße - benannt nach dem stalintreuen Chef der tschechoslowakischen KP - im Zentrum Moskaus. Seine Tage dürften allerdings gezählt sein, wenn dem offenen Brief des ZK von vergangener Woche auch Taten folgen sollten.
In unmißverständlicher Schärfe hatte das Parteigremium „Abweichler vom linken und rechten Flügel“ einer bewußt forcierten „Spaltung“ bezichtigt, deren Ziel es sei, die KPdSU von der politischen Bildfläche verschwinden zu lassen. Vornehmlich galt die Attacke aber den radikalen „linken“ Kräften in der demokratischen Plattform, abgekürzt DP. Ihre Protagonisten wie Juri Afanassjew und Igor Tschubais und nun auch Schostakowski, haben erste Konsequenzen schon zu spüren bekommen. Tschubais wurde von der Kontrollrevisionskommission seines Parteibezirks kurzerhand ausgeschlossen. Begründung: „Spalterische Tätigkeit.“ Den anderen beiden gewährte man eine Schonfrist. Aber auch sie haben vor dem gleichen Gremium zu erscheinen. Der Tenor der „Vorladung“, so Schostakowski, läßt wenig Raum für Fehlinterpretationen: „Vielleicht denken sie daran, selbst die Partei zu verlassen. Anderenfalls ist es nicht ausgeschlossen, daß entsprechende Beschlüsse gefaßt werden.“ Affanasjew hat diesen Schritt gestern vollzogen. Das Kalkül der Konservativen, mutmaßt Schostakowski, könnte darauf hinauslaufen, daß die Radikalen noch vor dem Parteikongreß austreten und die ultrakonservativen Kräfte um den Leningrader Jedasbow mit der Gründung einer Russischen Kommunistischen Partei ihren eigenen Laden aufmachen. Das, was von der KPdSU bliebe, wäre immer noch mächtig genug und vor allem gegen weitere Veränderungen immunisiert. Erinnerungen an längst überwunden geglaubte Zeiten werden wieder wach. Je näher die Delegiertenwahlen zum 28. Parteitag rücken, desto nervöser reagiert die Partei. Die Härte, mit der sie dabei auftritt, unterstreicht eher ihre derzeitige Hilflosig- und Handlungsunfähigkeit, denn ihr Vermögen, innerparteiliche und gesamtgesellschaftliche Probleme anzugehen. Dies bleibt der Bevölkerung nicht verborgen. In der jünsten Umfrage des „Allunionszentrums für Meinungsforschung“ bescheinigen 80 Prozent der Befragten der Partei einen gewaltigen Prstigeverlust. Fast die Hälfte meint, die KPdSU hätte ihre initiierende Rolle verloren und keinen Einfluß mehr auf die sozialen Veränderungen in ihrem Lande. Es kommt noch schlimmer. Die Zahl derjenigen, die der Partei überhaupt keinen Glauben mehr schenken, stieg innerhalb eines Monats von 23 auf 35 Prozent.
Wie nicht anders zu erwarten, hat Gorbatschow im Flügelkampf bisher noch keine offizielle Position bezogen. Seine Rede auf dem Komsomolkongreß, zeitgleich mit der Veröffentlichung des offenen Briefes, nahm aber ebenfalls vornehmlich die radikalen Kräfte ins Visier. Stantepede machten die Delegierten des Jugendverbandes dem Präsidenten klar, daß sie dieser Sichtweise nicht folgen werden. Sie verabschiedeten eine Resolution, in der es heißt, der offene Brief sei ein Versuch, innerparteiliche Diskussionen abzuwürgen und könne den Konservativen dazu dienen, andersdenkende Kommunisten zu unterdrücken.
Die Radikalen rechnen damit, Gorbatschow werde in diesem Konflikt noch einmal versuchen, die Balance zwischen beiden Flügeln zu wahren: „Allerdings muß er jetzt, da die Partei vor der Spaltung steht, klar Flagge zeigen. Die Politik der Kompromisse greift nicht mehr. Das zeigt auch die zunehmende Kritik an seiner Person von beiden Seiten“, meint Schostakowski. Im Zweifelsfalle wird sich Gorbatschow auf die Seite der Konservativen stellen. Grund hierfür sei die anstehende Wirtschaftsreform. Um sie wirklich durchzuboxen, muß er sich auf die Konservativen stützen: „Von ihnen wird die Hauptgefahr ausgehen.“ Allerdings bezweifelt er, dies könnte eine tragfähige Allianz auf Dauer werden. Denn die Unterschiede in Fragen des Parteiaufbaus und des Pluralismus seien zu kraß. Kettenraucher Schostakowski hält die Spaltung der Partei eigentlich schon für vollzogen. Auch, wenn er sich noch einmal an einen Stohhalm klammert. Sollte sich die Spaltung bis zum Parteitag hinausschieben lassen und die Delegierten das Fraktionsverbot aufheben, könnte die Einheit noch gewahrt bleiben. Die Chancen dafür sind aber gering.
Die Trennung von der Mutterpartei ist somit nur noch eine Frage des Wann und Wie. Schostakowski windet sich zwar, aber die Gründung einer Partei ist in weiten Kreisen der Opposition längst beschlossene Sache. Schließlich will man nach dem Schisma nicht mit leeren Händen dastehen. Um die Verteilung des Parteieigentums und die Infrastruktur geht es im wesentlichen.
Greift das ZK zum Mittel des Parteiausschlusses, wird das vorzeitig eine Welle an Massenaustritten nach sich ziehen und Ende Mai stünde dann die Konstituierung der DP als Partei endgültig auf der Tagesordnung. Der KPdSU drohen in jedem Fall verheerende Folgen. Denn ihr intellektuelles Potential wird ihr davonlaufen. Gorbatschows Versuch, seine Politik nicht mehr auf das Urteil von Apparatschiks, sondern auf Fachkompetenz zu gründen, hätte eine empfindliche Schlappe erlitten. Auf etwas 100.000 Mitglieder kann sich die DP jetzt schon stützen und ihr erster Allunionskongreß im Januar zeigte, daß 40 Prozent ihrer Funktionsträger aus Wissenschaft und Forschung stammen, 20 Prozent aus den Chefetagen großer Unternehmen und ein weiteres Fünftel sich aus hauptamtlichen Funktionären der KPdSU rekrutiert. Bei einem Massenausschluß würden auch reihenweise einfache Genossen die Partei aus eigenen Stücken verlassen. „Aber viele von ihnen werden sich endgültig aus der Politik verabschieden“, bedauert Schostakowski. Den Zuspruch für die in Richtung Sozialdemokratie marschierende DP in der Bevölkerung schätzt er auf etwa 30 Prozent.
Fazit: Der schleichende Machtverlust der KPdSU ist nicht mehr aufzuhalten, während im Laufe diese Prozesses die regionalen Sowjets immer mehr an Entscheidungskompetenzen zugewinnen werden. Ein Ziel von Gorbatschows Politik wäre damit erreicht, die Stärkung der staatlichen Exekutive auf Kosten der Partei.
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