: „Wir verhandeln über alles - außer die Unabhängigkeit“
Interview mit Laima Andrikiene, Agrarexpertin, Abgeordnete des litauischen Parlaments und Assistentin der Premierministerin Prunskiene ■ I N T E R V I E W
taz: Warum ist Ihnen die vollständige Unabhängigkeit Litauens so wichtig? Würde eine konföderative Lösung, wie Gorbatschow sie Estland und Lettland vorschlug, nicht einen handhabbaren Kompromiß darstellen?
Laima Andrikiene: Litauen war bis 1940 ein unabhängiger Staat und wurde dann von der Soewjetunion okkupiert. Unsere Großeltern erlebten noch die Unabhängigkeit, sie und unsere Eltern wurden nach der Zwangsintegration verfolgt; viele tausend, darunter mein Großvater, wurden nach Sibirien deportiert. Die kurze Geschichte unserer Unabhängigkeit und die lange unserer Leiden sind im Bewußtsein jeder litauischen Familie eingegraben. Dazu kommt noch folgendes: Bei den Wahlen zum sowjetischen Volksdeputiertenkongreß sprach sich Sajudis gegen den Widerstand radikaler Gruppen für die Teilnahme an der Wahl aus. Im November hat der Kongreß ein Gesetz über die ökonomische Souveränität der baltischen Republiken verabschiedet. Wir haben dann versucht, die Staatsbetriebe in litauisches Eigentum zu überführen, was aber von der sowjetischen Führung als verfassungswidrig erklärt wurde. Das hat uns klargemacht, daß die Linie „Schritt für Schritt“ nicht zu verwirklichen ist. Wir mußten erst unsere Unabhängigkeit erklären und von dieser klaren Position aus verhandeln. Eine Föderation ist für uns unannehmbar, sie würde unser Einverständnis voraussetzen, daß wir zur Sowjetunion gehören.
Ich sagte Konföderation.
Als Gorbatschow in Vilnius war, sagte er uns, verwerft den Föderations- oder Konföderationsplan nicht, ihr wißt doch noch gar nicht, wie er aussehen könnte. Aber unsere Leute haben nach langen Jahren des Bittens und Verhandelns kein Vertrauen mehr in Versprechungen. Sie glauben nicht an die Fähigkeit des sowjetischen Systems, sich zu regenerieren. Mag sein, daß die Sowjetunion sich in Richtung einer Marktwirtschaft entwickelt. Aber wie lange wird das dauern? Wir können keine 20 Jahre warten. Das große politische Engagement unseres Volkes würde sicher zerschlissen werden.
Würde es nicht sehr schwer werden, ohne die engen ökonomischen Verbindungen zur SU zu überleben?
Die Sowjetunion wird immer unser Nachbar bleiben, und kein Mensch in Litauen denkt daran, die engen ökonomischen Beziehungen zur SU zu lockern
Klar. Aber was geschieht, wenn die Sowjetunion von sich aus diese Beziehungen abbricht?
Ich glaube nicht, daß Gorbatschow das machen kann - die Wirtschaft Litauens ist zu stark in die sowjetische integriert. Litauen produziert zum Beispiel 50 Prozent des Stroms für den Kaliningrader Distrikt. Wenn das Embargo andauert, würden wir nicht nur die Stromlieferungen unterbrechen, sondern auch unsere umfangreichen Lebensmittelexporte. Das Embargo verfolgt das politische Ziel, die meist russischsprechenden Arbeiter der Industriebetriebe gegen den Unabhängigkeitskurs aufzubringen, denn diese Arbeiter müssen zum Teil fürchten, daß ihre Betriebe die Produktion einstellen und sie kurzfristig arbeitslos werden. Wir versuchen jetzt, diese Probleme zu lösen, zum Beispiel durch die Skandinavienreise unserer Premierministerin.
Wie hat sich das Verhältnis zu der russischen Minderheit entwickelt?
Diejenigen Russen, die seit längerer Zeit bei uns leben, unterstützen die Unabhängigkeitsforderung. Diejenigen, die erst in den letzten Jahren wegen des höheren Lebensstandards gekommen sind, sind natürlich weniger begeistert. Bis jetzt hat es Gorbatschow nicht erreicht, die russische Minderheit gegen die Litauer zu mobilisieren.
Was ist mit dem Moratoriumsvorschlag des litauischen Vertreters in Moskau?
Wir haben Gorbatschow das Angebot gemacht, bis zum 1. Mai alle Entscheidungen aufzuschieben, damit er bis dahin mit uns in Verhandlungen eintritt.
Sind sie einverstanden, einige Gesetze wie das über die litauische Staatsbürgerrschaft oder gegen den Zwang zum Wehrdienst in der sowjetischen Armee zu suspendieren?
Nein. Unsere wehrpflichtigen Soldaten sind in der sowjetischen Armee dauernden Schikanen ausgesetzt, und einige sind getötet worden. Wir haben lediglich beschlossen, daß der Zwang wegfällt. Wer freiwillig zur sowjetischen Armee gehen will, kann das tun.
Gorbatschow fordert ein Plebiszit zur Unabhängigkeit. Welche Fragestellung könnten Sie akzeptieren?
Unter den gegenwärtigen Bedingungen - der faktischen militärischen Okkupation - läßt sich kein Referendum durchführen. Eigentlich sehe ich keinen Grund für ein Referendum, denn das Volk von Litauen hat sich bei den Parlamentswahlen klar für die Kandidaten der Unabhängigkeit ausgesprochen. Aber wenn schon Referendum, dann unter der Fragestellung: Soll Litauen Mitglied einer neuen sowjetischen Föderation werden? Wir sind bereit, über alles zu verhandeln - außer die Erklärung unserer Unabhängigkeit.
Das Gespräch führte Christian Semler
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen