Erzwingt DDR-SPD Verfassungsdebatte?

Die Sozialdemokraten in Ost-Berlin haben den Schlüssel in der Hand  ■ D O K U M E N T A T I O N

Wer heute noch die zu einer Alternative hochgespielte Frage, deutsche Vereinigung durch „Beitritt“ der DDR oder der Länder der DDR zur Bundesrepublik nach Artikel23 oder Konstituierung eines gesamtdeutschen Staates auf der Grundlage einer (neuen) gesamtdeutschen Verfassung (nach Artikel146 Grundgesetz) verfolgt, hat die politischen Realitäten nicht begriffen und begibt sich ins Abseits. Heute gilt es zu erkennen, daß diese „Alternative“ von Anfang an nicht zwingend war und daß ein „Beitritt“ zum Staatsverband Bundesrepublik mit der Bedingung verknüpft werden kann, eine gesamtdeutsche Verfassung zu schaffen oder das Grundgesetz zu ändern. Eine solche Koppelung würde dazu führen, daß die Bundesrepublik als Staat und als Völkerrechtssubjekt erhalten bleibt und als „Groß-BRD“ auch das Gebiet der heutigen DDR umfaßt, daß aber die verfassungsrechtlichen Grundlagen dieses veränderten Gemeinwesens neu geschaffen werden. Mit anderen Worten: Das „Ja“ zu einer Gemeinschaft wird gleichsam an den Abschluß eines „Ehevertrages“ geknüpft (durch den die Grundlagen des künftigen Miteinander verfassungsrechtlich festgelegt werden).

Den Schlüssel dazu, den Beitritt mit verfassungsrechtlichen Sicherungen zu verbinden, hält die SPD der DDR in der Hand. Sie konnte in den Koalitionsvereinbarungen nicht durchsetzen, daß in der DDR eine neue Verfassung verabschiedet wird. Sie hat sich damit einverstanden erklärt, „die Einheit Deutschlands nach Verhandlungen mit der BRD auf der Grundlage des Artikels 23 Grundgesetz (...) zu verwirklichen„; aber sie konnte ihre Koalitionspartner in der neugewählten DDR-Regierung auf folgenden Passus verpflichten: „Bei der Veränderung des Grundgesetzes ist es das Verhandlungsziel der Regierung, die sozialen Sicherungsrechte als nicht einklagbare Individualrechte einzubringen. Das gilt vornehmlich für das Recht auf Arbeit, Wohnung und Bildung. Diese Rechte werden in der Form von Staatszielbestimmungen gewährleistet.“

DDR-SPD hat Veto-Recht

Da die Frage eines „Beitritts“ zur Bundesrepublik eine Verfassungsänderung darstellt, kann ein Beitritt von der Volkskammer nur mit einer Zweidrittelmehrheit beschlossen werden. Nur mit den Stimmen der SPD der DDR kann die Regierung Lothar de Maiziere diese Mehrheit erreichen. Das heißt: Die SPD der DDR verfügt über ein Veto-Recht. Wenn die SPD ihr Veto-Recht nicht für ein Linsengericht verkauft, kann sie von diesem Recht auf unterschiedliche Weise Gebrauch machen:

Entweder bindet sie den Beitrittsbeschluß an die durch einen Staatsvertrag geregelten Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung und die Verabschiedung der gesamtdeutschen Verfassung durch einen Volksentscheid in der DDR und der Bundesrepublik oder sie verknüpft den Beitrittsbeschluß mit einem Staatsvertrag, in dem die vorgesehenen Änderungen des Grundgesetzes genau festgelegt werden und der (auf Grund der Koppelung) sowohl in der Volkskammer als auch im Bundestag und Bundesrat einer Zweidrittelmehrheit bedarf.

Kein Königsweg

Keiner der beiden Wege ist ein Königsweg. Der Weg über eine verfassunggebende Versammlung und einen Volksentscheid (der zugleich die deutsche Vereinigung besiegelt) entspricht der Bedeutung des Einigungsprozesses und zugleich dem Willen derjenigen, die das Grundgesetz formulierten und von Ablösung des Grundgesetzes durch eine Verfassung gesprochen haben, „die vom deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen wird“ (Artikel 146). Konservative und Liberale würden in einer solchen Versammlung überwiegen, die (sofern nichts anderes festgelegt wird) mit einfacher Mehrheit entscheidet. Dennoch bekämpfen konservative Staatsrechtler der Bundesrepoublik diesen Weg. Vermutlich fürchten sie, die CDU der DDR könnte sozialen Sicherungsrechten und anderen progressiven Veränderungen des Grundgesetzes in einer verfassunggebenden Versammlung zustimmen. Wolfgang Thiersee hat als Sprecher der SPD in der Volkskammer sich am 20.April für diesen Weg der Koppelung des Beitritts mit der Schaffung einer neuen Gesamtverfassung ausgesprochen.

Wichtig bei der Verbindung des Beitritts zum Staatsverband mit der Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung sind folgende Fragen: Wie ist das zahlenmäßige Verhältnis zwischen den Abgeordneten einer solchen Versammlung aus der Bundesrepublik und der DDR? Wie werden die Interessen der Bundesländer und der künftigen Länder der DDR berücksichtigt? Soll die verfassunggebende Versammlung völlig freie Hand haben oder werden Teile des Grundgesetzes für unantastbar erklärt? Der andere Weg, den Beitritt mit einem Staatsvertrag zu verknüpfen, durch den das Grundgesetz verändert wird, ist nur dann verfassungsrechtlich abgesichert, wenn dieser Vertrag so formuliert wird, daß Beitritt, Inkraftsetzung des Grundgesetzes für die bisherige DDR und die konkrete Änderung des Grundgesetzes in einem Vertragswerk verbunden werden, das als Paket sowohl in der Volkskammer als auch in Bundestag und Bundesrat mit Zweidrittelmehrheit beschlossen werden muß.

Der Weg über einen Staatsvertrag ist berechenbarer. Doch dominieren in diesem Fall Exekutive und die zu Rate gezogenen Experten. Dem könnte nur begegnet werden, wenn Volkskammer und Bundestag Verfassungsausschüsse einsetzen würden, in denen die Veränderungen des Grundgesetzes - unter Umständen sogar in gemeinsamen Sitzungen - beraten werden. Die Hürde der erforderlichen Zweidrittelmehrheit in den Parlamenten könnte zu Verfassungskompromissen führen.

Unklar ist, was soll auf dem Weg der Verfassungsgebung oder der Grundgesetzänderung realisiert werden? Der Verfassungsentwurf des Runden Tisches hat dazu vor allem im Teil I „Menschen- und Bürgerrechte“ eine wichtige Vorarbeit geleistet. Doch angesichts der Mehrheitsverhältnisse in einer verfassunggebenden Versammlung oder dem Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit für jede Änderung es Grundgesetzes muß mit erheblichen Abstrichen gerechnet werden. Die DDR könnte nichts Besseres tun, als wenigstens diese Teile des Verfassungsentwurfes in eigene Verfassung aufzunehmen und im Grundgesetz festzuschreiben, daß Menschen- und Bürgerrechte für das frühere Gebiet der DDR fortgelten, wenn sie Recht begründen, die im Grundgesetz nicht enthalten sind.

Kampf um jede Verfassungsbestimmung

Wenn das politisch nicht durchsetzbar ist, kommt es darauf an, um jede einzelne Verfassungsbestimmung zu kämpfen! Ohne eine Verfassungsbestimmung durch die festgelegt wird, daß die im bisherigen Hoheitsgebiet der DDR geltende Fristenregelung bei Schwangerschaftsunterbrechungen in diesem Geltungsbereich des Grundgesetzes fortgilt, kommt beispielsweise nach Ablauf der vorgesehenen Übergangszeit auch in der bisherigen DDR der in der Bundesrepublik geltende Paragraph 218 StGB zum Zuge.

Die Abgeordneten in der Volkskammer müssen zum Teil noch den Unterschied zwischen einem mit einfacher Mehrheit verabschiedeten „einfachen“ Gesetz und einer Verfassungsbestimmung lernen, die nur mit Zweidrittelmehrheit verändert werden kann. Bei den früheren Beschlüssen der Volkskammer, die in der Regel einstimmig gefaßt wurden, kam es auf diesen Unterschied nicht an.

Diejenigen Bürgerrechtler in der Bundesrepublik, die sich nicht nur gegen eine „Verstaatlichung der Menschenrechte“ (als Indienstnahme für Herrschaftszwecke), sondern auch gegen eine Verrechtlichung der Menschenrechte wandten, müssen erkennen, daß die Konservativen in der Bundesrepublik den Kampf um Verfassungspositionen sehr konsequent führen. Sie werden ihre Ziele durchsetzen, wenn dem nicht begegnet wird.

Jürgen Seifert

Der Autor hat in der Auseinandersetzung um die Notstandsgesetze 1963 bis 1968 eine wichtige Rolle gespielt und war jahrelang Bundesvorsitzender der Humanistischen Union. Der Beitrag erscheint in voller Länge demnächst in der Zeitschrift 'Vorgänge‘.