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Das deutsche Europa

Die Auswirkungen der Wiedervereinigung aus italienischer Sicht  ■ D E B A T T E

In den 90er Jahren wird Italien nicht mehr die Lokomotive Europas sein. Seltsamerweise war sie das - von den Italienern selbst, allen voran den Politikern, im allgemeinen nicht zur Kenntnis genommen - das ganze vergangene Jahrzehnt über. In der Tat hatte unter den vier großen Ländern der Alten Welt zwischen 1980 und 1989 unser Land die höchsten Wachstumsziffern. Durchschnittlich betrug das Wirtschaftswachstum in diesem Zeitraum jährlich 2,55 Prozent. Frankreich, das unmittelbar hinter uns lag, hatte ein durchschnittliches Wachstum von jährlich knapp über zwei Prozent.

Im kommenden Jahrzehnt hingegen wird ganz klar und mit großer Bestimmtheit Deutschland den europäischen Zug anführen. Eine jüngst veröffentlichte Studie geht davon aus, daß das durchschnittliche jährliche Wachstum der bundesrepublikanischen Wirtschaft in den 90er Jahren 3,58 Prozent betragen könnte. Aber vielleicht wird man sogar auf vier Prozent kommen. Kein anderes europäisches Land wird annähernd soviel schaffen (nur Italien, das auf 3,37 Prozent kommen dürfte). Selbst Amerika wird zurückbleiben.

Wie kommt es denn dazu? Über die ganzen 80er Jahre hinweg war die Bundesrepublik Deutschland unter den vier großen europäischen Ländern das Schlußlicht. Durchschnittlich betrug ihr Wachstum weniger als zwei Prozent. Dies mag zwar verwundern, da die Deutschen gewöhnlich für die Tüchtigsten der Welt gehalten werden, doch den Sachverständigen scheint es nicht seltsam.

Deutschland hat unter den europäischen Ländern die ernsthaftesten demographischen Probleme. Faktisch geht seine Bevölkerung kontinuierlich zurück und ist bereits sehr überaltert. Das „Tiefenprofil“ seines Wachstums in den 80er Jahren spiegelt dieses ernsthafte Problem wider. Aufgrund des Arbeitskräftemangels hatte sich die Bundesrepublik für eine langsame Gangart entschieden und die Rolle der Lokomotive - und damit, was noch viel wichtiger ist, große Chancen wirtschaftlichen Wachstums - Italien und Frankreich überlassen.

Jetzt aber hat sich alles verändert. Die Bundesrepublik hat ihre Arbeitskräfte bei der Schwester im Osten entdeckt. Man hat errechnet, daß in den letzten zwei Jahren mindestens eine Million Menschen über die Mauer „gesprungen“ sind und in der bundesrepublikanischen Wirtschaft schnell eine Beschäftigung gefunden haben. Und in der Tat beträgt das Wirtschaftswachstum Deutschlands seit zwei Jahren mehr als 3,5 Prozent, während es vorher weniger als zwei Prozent betrug. Eine Revolution.

Und in den nächsten zehn Jahren wird gerade Deutschland, aufgrund der Wiedervereinigung, die Lokomotive Europas sein. Und es wird eine Lokomotive sein, die sehr schnell fahren wird, quasi mit japanischer Geschwindigkeit.

Wie ändert dies alles die europäischen Szenarien?

1) Bis gestern wurde Europa von einer Art französisch -deutscher Diarchie angeführt. Deutschland war wirtschaftlich stärker, aber Frankreich war dynamischer. Und die beiden hielten sich im Gleichgewicht. Von morgen an aber wird Großdeutschland viel größer als alle andern europäischen Länder sein und eine deutlich höhere Wachstumsrate aufweisen, die höchste in der westlichen Welt. Logischerweise läßt sich absehen, daß die französisch -deutsche Diarchie nicht mehr funktionieren wird. Den europäischen Zug wird Deutschland anführen. Und dies wird sicher wirtschaftliche und politische Spannungen erzeugen.

2) Europa wird sich also unweigerlich der Gangart Großdeutschlands anpassen müssen, das sich als eine Art Japan im Herzen der Alten Welt ankündigt. Zudem ein Japan, das seine Konsumenten nicht tausende Kilometer entfernt suchen muß. Das Neue Deutschland wird mehr als 300 Millionen Konsumenten um die Ecke haben, um sich herum, ohne Zollschranken, die Vermarktung, Verkauf und Gewinn behindern. Wenn wir auch noch die Bevölkerung der früher kommunistischen Länder des Ostens hinzurechnen, werden es fast eine halbe Milliarde Konsumenten sein. Das Neue Deutschland wird also ein „europäisches Japan“ mit viel Brennstoff drum herum sein. Letztlich könnte sich seine Wachstumsrate als noch höher erweisen als die ohnehin sehr hohe, die heute bereits absehbar ist.

Welche Probleme wirft dieser Wandel für Italien auf?

Nur ein einziges, aber ein sehr großes. Sich in einem „deutschen Europa“ zu befinden, in jenem der 90er Jahre, wird unweigerlich schwieriger und komplizierter sein. Denn es wird ein Europa sein, das schnell rennt, das effizient und sehr konkurrenzfähig sein wird. Wenn wir gestern zurückblieben, werden wir es morgen noch mehr, noch sehr viel mehr. Die Versuchung, die Auseinandersetzung mit diesem Europa zu vermeiden und uns auf den Mittelmeerraum hin zu orientieren, wird stark sein. Aber ihr nachzugeben, wäre ein Fehler.

Überdies wird dies ein Europa sein, das ziemlich nach Osten schauen wird. Und es wird nicht nur schauen, es wird im Osten auch Fabriken bauen. Jene Länder werden in der Tat heute für sehr interessant gehalten - sowohl in bezug auf Arbeitskosten wie auch auf den absehbaren Gewerkschaftsfrieden.

Die Länder Südeuropas (Italien, Spanien, Griechenland, Portugal) werden außen vor bleiben und für die großen multinationalen (und auch die nationalen) Konzerne nicht mehr konkurrenzfähig sein. Wenn sie nicht den Anschluß an den europäischen Zug verpassen wollen, werden sie wie Verrückte rennen müssen.

Giuseppe Turani

Aus 'Corriere della Sera‘.

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