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Ein quälendes Erbe

Was heißt Solidarität mit der Bürgerrechtsbewegung in der DDR für die Linke?  ■ D E B A T T E

1. Stärkste Partei ist bei den Märzwahlen in der DDR die ehemalige Blockpartei CDU geworden. Als SED-Stütze der Vergangenheit und als Ordnungskraft der Zukunft kann sie an einer radikalen Aufarbeitung des Gewesenen kein Interesse haben. Schon werden Vertuschungsbedürfnisse laut: die Legitimation der Volkskammer dürfe nicht durch Nachforschungen in Stasi-Archiven erschüttert werden. Der BRD-Verfassungsschutz interessiert sich für die Konkursmasse seiner früheren Gegenspieler. Ehemalige Stasi-Agenten versuchen, im Westen unterzukommen. Ein gesamtdeutsches Verschleierungsbedürfnis stellt sich ein: schließlich kommt kein zivilisiertes Land ohne Geheimdienst aus. Und nehmen muß man, was man kriegt.

2. Am deutschen Reißwolf stehen - Ironie der Geschichte die beiden Hauptkontrahenten des kalten Krieges, SED und CDU. Die allzu rasch geläuterte SED, hastig auf marktwirtschaftlich-demokratisch gestylt, schickt sich an, im neuen Deutschland die alte Linke um sich zu sammeln, und schon hören wir Stimmen, die nur sechs Monate, nachdem in Leipzig beinahe ein Himmlischer Frieden angerichtet worden wäre, vor kleinlichen Rachegelüsten warnen. Es gelte nun, den Blick nach vorn zu richten. Alles neu macht der Mai. Wir fragen uns bitter: wo ist das gute Gedächtnis derjenigen geblieben, die bei uns im Westen nicht müde wurden, die Wiedervereinigung alter Nazis anzuprangern, als es ab 1949 „Schwamm drüber“ hieß? Was ist ein Antifaschismus wert, der die Stalinisten von gestern heute in die Arme schließt und ihnen die Schnellreinigung attestiert?

3. Wenn es denn nun eine Große Koalition der Verdrängung von rechts bis links gibt, um über den Gräbern von Neubrandenburg die politische Landschaft neu zu ordnen, dann kann es für uns andere nur die Aufgabe sein, dem neuen deutschen Vergessen eine gemeinsame Aufklärung entgegenzustellen. Unsere Partner sind dabei diejenigen Kräfte in der DDR, die im Oktober 1989 die Knochen hingehalten haben; nicht aber diejenigen, die schon die Internierungslager für sie bereithielten. Keine Angst - es wird keine Rache geben. Die PDS mit ihrem immer noch funktionierenden Verwaltungsapparat wird noch gebraucht; und wir wissen doch, daß „unsere“ CDU nicht wählerisch ist. Gegenüber diesem Herrschaftsanliegen erklären wir: eine Generalamnestie für den SED-Staat darf es nicht geben. Wer Menschen unterdrückt, eingesperrt, um Arbeitsplatz, Bildungsweg und Wohnung gebracht, sie schikaniert und bespitzelt hat, nur weil sie sich der SED-Diktatur nicht unterwarfen, muß dafür geradestehen.

4. Die besondere Verantwortung der westeuropäischen Linken ergibt sich daraus, daß allzu viele ihrer Fraktionen immer bereit waren, die Verhältnisse in den osteuropäischen Ländern zu verschweigen, zu beschönigen oder als „Fehlentwicklungen im Einzelfall“ zu verharmlosen - bis hin zur DKP, die unverblümter als alle ihrer Schwesterparteien die DDR rückhaltlos verteidigt hat. Aber nicht nur sie. In Hamburg haben auch Gruppierungen wie der KB eine scharfe Kritik am RGW immer als Wasser auf die Mühlen des Antikommunismus gemieden. Heute, wo die angeblichen Greuelmärchen durch die Enthüllungen sowjetischer und anderer Historiker noch übertroffen werden, zeigt sich, wie fatal es für die eigene Glaubwürdigkeit war, die Wahrheit wider besseres Wissen verschwiegen oder sogar unterdrückt zu haben (zum Beispiel durch die Maßregelung innerparteilicher KritikerInnen). Oder hören wir jetzt wieder den Spruch unserer Eltern: „Wir haben von allem nichts gewußt?“ Dafür aber war die Informatonslage in der BRD ja doch wohl gut - im Vergleich zum Dritten Reich.

5. Wie kann die Linke ihre besondere Verantwortung für die Entwicklung des Sozialismus einlösen? Nicht einlösen kann sie sie dadurch, daß sie das Sozialismusproblem auf den Stalinismus reduziert und diesen dann als „Betriebsunfall der Geschichte der Arbeiterbewegung“ (Ernest Mandel) verniedlicht. Stalinismus: das heißt massenhafter Terror, Erschießungskommandos, Archipel Gulag. Die Ära Honecker war nicht stalinistisch, aber sie war dennoch finster. Wir können den Sozialismus nicht dadurch posthum seligsprechen, daß wir von ihm den Stalinismus subtrahieren. Er war in seiner DDR-Gestalt auch kein Ausrutscher einer kommunistischen Partei. Er war der Normalfall.

6. Das Jahr 1917 hat die enttäuschten Hoffnungen von 1789 nicht eingelöst, der Sozialismus war nicht „hundertmal demokratischer als die beste bürgerliche Demokratie“ (Lenin), im Gegenteil: er fiel hinter alle Minimalgarantien des demokratischen Verfassungsstaats zurück. Das linke Bewußtsein muß gequält zur Kenntnis nehmen, daß selbst die Erkämpfung der BRD-Rechtsordnung für die DDR-Bevölkerung wie ein ungeheurer, noch vor sieben Monaten unvorstellbarer Schritt nach vorn wirkt.

7. Wenn die Stasi-Archive aufgearbeitet sind, wenn die Zeitzeugen der DDR gesprochen haben, wenn das ganze Ausmaß der traurigen letzten vierzig Jahre überhaupt faßbar sein wird - dann wohl erst wird jenes Stück Trauerarbeit in Angriff genommen werden können, das die westliche Verstrickung betrifft. Deshalb ein Appell an alle alten politischen Freundinnen und Freunde: werft Eure Archive nicht auf den Müll. Laßt uns aufarbeiten, wie die westdeutsche Linke die sozialistische Realgeschichte und Ideologiegeschichte flankiert hat; wieviel Raum bei ihnen das polnische Kriegsrecht, die Ausweisung Biermanns, die Charta77 und andere bekamen und wie sie bewertet wurden welche Wörter hier bemüht wurden. Und laßt uns die vielen Artikel aufbewahren und sammeln, die hierzu nie erscheinen konnten. Es nützt ja nichts: eines Tages, wenn sie wieder Luft holen können, wenn mal eine Besuchspause ist, dann werden die Freunde aus Rostock, Leipzig oder Dresden sowieso danach fragen. Und dann muß es raus.

8. Die Ideologiegeschichte der Linken umfaßt einen ganzen Reigen von Rechtfertigungsfiguren, um mit den Verbrechen, die seit 1917 im Namen des Sozialismus begangen wurden, fertigzuwerden. Haben wir auch hier den Mut zur radikalen (Selbst-)Aufarbeitung! Wer kennt nicht das verzweifelte Bemühen, den guten Lenin gegen den schlechten Stalin zu verteidigen, sich vor dem bedrückenden Staatssozialismus zu Rosa Luxemburg zu retten, die keine Gelegenheit bekam, ihren Zeitgenossen die ideale proletarische Staatsmacht inclusive Freiheit des Andersdenkenden vorzuführen, oder gar die Gründerväter des Marxismus heiligzusprechen und alles, was danach kam, als Entgleisung abfzutun? Eine Linke, die sich von den eigenen Geschichtslügen emanzipieren will, muß nach den Wurzeln der Entwicklung nach 1917 zu suchen. Sie darf sich nicht vor der Frage drücken, inwiefern die leninistische Entmündigung des Menschen schon im 19. Jahrhundert philosophisch vorbereitet wurde.

9. Wir müssen uns fragen: Gibt es eine logische Entwickungslinie zwischen der anti-individualistischen Geschichtsphilosophie des Marxismus („nur eine Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“), dem Rückgriff auf die eherne Notwendigkeit der Hegelschen Geschichtslogik einerseits und der Vergewaltigung und Opferung des Individuums unter sozialistischer Herrschaft andererseits? Gibt es eine logische Verbindung zwischen der von jedem Selbstzweifel gereinigten leninistischen Bürgerkriegsstrategie (militärische Zuspitzung gesellschaftlicher Widersprüche) und der Ungeniertheit, mit der die „moderne“ sozialistische Staatsmacht jedes Appellationsrecht gegen sie vermissen ließ? War es Zufall, daß die Arbeiterklasse der DDR „ihrer“ Staatsmacht wesentlich wehrloser, entmündigter gegenüberstand als die BRD-Arbeiter im BRD-Staat?

10. Hüten wir uns jetzt vor den kleinlauten Themenwechslern in den eigenen Reihen, die im ersten Satz die Havarie des Sozialismus bedauern, im zweiten ein bisher nie verspürtes Mitleid mit der DDR-Bevölkerung äußern und im dritten Satz schon wieder beim bösen Kapitalismus sind. Zwingen wir sie, beim Thema zu bleiben, so, wie wir als mißtrauische Kinder unsere Eltern, die Kriegsgeneration, gezwungen haben, auf unsere unbequemen und peinlichen Fragen zu antworten. Und: Fragen wir sie, wie sie die Rechtfertigung oder Leugnung von Verbrechen moralisch bewerten. Einen Befehlsnotstand wird im Westen niemand für sich beanspruchen wollen.

Kurt Edler

Der Autor hat die Hamburger GAL mitgegründet, diesen Hamburger Landesverband der Grünen vor vier Wochen verlassen und das Hamburger Grüne Forum gegründet.

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