: Der 1. Mai in Kreuzberg
Ein Nachruf auf ein kommendes Ereignis ■ K O M M E N T A R
Indifferenz, Voyeurismus, Sprachlosigkeit - mit anschließendem Katzenjammer. So läßt sich die Situation um den 1. Mai in Kreuzberg charakterisieren. Und: Eine Stadt schaut zu, wie eine Szene ihren vermeintlichen Besitzanspruch auf einen Kiez „verteidigen“ will und doch nichts anderes macht, als einen Stadtteil zu zerstören. Nicht zum ersten, aber wohl in dieser Form zum letzten Mal. Denn jenes Kreuzberg der vergangenen Jahre gibt es spätestens seit dem 9. November nicht mehr. Die Szene hat Schwierigkeiten, dies zu begreifen, aber „irgendwie“ kommt dumpfe Endkampfstimmung auf: Das Neue, das auch zum Ende ihrer Existenz im äußersten Winkel wird, kann nur in Form des Untergangs rezipiert werden. Wenn es im Kiez nicht gelingt, sich dagegen zu behaupten, dann wird Kreuzberg einmal als Synonym für die Niederlage der Linken in der Stadt gelten.
Dabei ist die Kreuzberger Szene längst gespalten. Da sind diejenigen, die lange schon nicht mehr ansprechbar sind, weil ihr „gesichertes“ Wirklichkeitsbild auf einen „Kampf gegen den Staat“ fixiert ist. Und es gibt jene, die begriffen haben, daß diese in Kreuzberg gewachsene Mischung aus städtischem Leben und community hauptsächlich dann eine Chance hat, wenn sie sich als zivile Gesellschaft selbst behauptet.
Darum geht es an diesem 1. Mai. Zivile Gesellschaft gegen die verrückte Staatsfixiertheit dieser Szene, die auch noch meint, sie hätte die Definitionsgewalt darüber, was heute links ist. Dabei hat sie das, was über den Kreuzberger Tellerrand hinausragte, nicht begriffen: In Osteuropa hat sich die zivile Gesellschaft mit einer demokratischen Revolution behauptet. An der Wohlstandslinken in West-Berlin ist dieser Umbruch offenbar völlig vorbeigegangen. Wie anders läßt sich erklären, daß höchste Gremien der AL den Marodeuren in Kreuzberg auch noch den Rücken stärken, statt denen die Stirn zu bieten, die ihren „Kampf gegen den Staat“ in der als „Fest“ ausgegebenen Zerstörung eines öffentlichen Parks - am Görlitzer Bahnhof - austoben wollen.
Das eigentlich Gefährliche an Kreuzberg ist das Nebeneinanderherleben und das Weggucken da, wo es brisant wird, wo sich selbsternannte „Ordnungskräfte“ mit mafiosen Strukturen durchsetzen. Auch die Beteiligung türkischer Jugendlicher an den Zerstörungen im Kiez ist dieses Mal in die ideologische Klammer mit der aufgeblasenen Chiffre Antirassismus plus Anti-Großdeutsch „integriert“. Aufgabe der zivilen Gesellschaft in der Stadt ist es dagegen, dieses Zwangsläufige zu durchbrechen, was bedeutet: der langangekündigten Randale folgt die langangekündigte Empörung, der das langangekündigte Entsetzen über die Einsätze der Polizei und die Gewalt der Demonstranten folgt.
Max Thomas Mehr
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