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Ein Hauswartsehepaar

■ Erlesenes aus der deutschen Geschichte

Gabriele Goettle

Eine für Berlin typische Institution in Altbau-Mietshäusern ist der Hauswart. Er bildet das Bollwerk zwischen Hauseigentümer und Mietern. Seine Machtbefugnis erstreckt sich oft bis auf die Weitervermietung frei werdender Wohnungen. Seine Pflichten hingegen umfassen die Ausführung diverser Reparaturen, das Reinigen der Aufgänge, Eingänge und des Innenhofes und die Entgegennahme von Klagen der Mieter über Wasserrohrbruch oder Lärmbelästigung, denen er in der Regel nur schleppend nachgeht.

Eine seiner täglichen Aufgaben besteht darin, Punkt 22Uhr die Tür des Vorderhauses abzuschließen. Dafür, daß später kommende Mieter die Tür nicht einfach offenstehen lassen können, sorgt ein raffiniertes Schlüsselsystem. Der Torschlüssel hat an beiden Enden einen Bart, muß nach dem Aufschließen soweit ins Schloß hineingeschoben werden, daß er an der Innenseite der Tür wieder herauskommt, und erst wenn abgeschlossen wird, läßt er sich wieder aus dem Schloß herausziehen. Das an sich gut überlegte System hat allerdings zur Folge, daß Mieter ohne Telefon für die Außenwelt bis sechs Uhr morgens unerreichbar sind, denn Klingelbretter sind an diesen Häusern nicht üblich. So hat der Hauswart alles unter Kontrolle. Den Mietern gegenüber ist grundsätzliches Mißtrauen angebracht. Die Mietsache hingegen, besonders wenn sie in einen sanierungsbedürftigen Zustand gerät, wird in der Regel mit Gelassenheit betrachtet.

Herr und Frau Kubitzky, die Hauswartsleute, von denen hier die Rede sein soll, betreuen in angemessener Weise ein heruntergekommenes Mietshaus in Schöneberg. Herr Kubitzky, durch zunehmenden Alkoholkonsum während der letzten Jahre in seiner Leistungskraft eingeschränkt, überläßt die unumgänglichen Pflichten seiner Frau. Ordnungsgemäß verschließt und öffnet Frau Kubitzky das Haustor, wohingegen das Reinigen der Aufgänge und besonders der Treppenhausfenster lange schon zurückstehen muß, weil die Beschäftigung mit der Innenhofbegrünung - und nicht zuletzt dem Gatten - ihre verbliebenen Kräfte in Anspruch nimmt.

Die beiden Hauswartsleute sind unzufrieden und haben einleuchtende Gründe dafür. Seit 1938 sind sie im Hause. Damals, frisch verheiratet, bezogen sie eine kleine Dienstwohnung im Vorderhaus. Im Eingang gab es Zentralheizung, einen goldumrahmten Spiegel und Marmorbänke. Auf der Treppe des Vorderhauses lag eine Teppich bis zum letzten Stock hinauf und der „stumme Portier“ wies die Namen von Rechtsanwälten, Ärzten und einem Kunstprofessor auf. Selbst im Hinterhaus und Seitenflügel wohnten damals bessere Mieter als heute im Vorderhaus. Im Krieg wurde das Haus von einer Brandbombe getroffen. Der Dachstuhl, samt Atelier des Kunstprofessors, brannte ab, der linke Seitenflügel wurde ein Raub der Flammen, der rechte stark beschädigt. Aus dem einstmals schmucken Jugendstilhaus wurde über Nacht eine nur noch halbwegs bewohnbare Ruine. Die Hauswartsleute hatten dies und jenes aus den Flammen gerettet, insbesondere das dem Hausbesitzer teure Töchterchen, und waren dafür entlohnt worden durch lebenslängliches Wohnrecht im kaum noch vorhandenen Hause. Das haben sie schriftlich Vom Besitzer, der seit 1945 in Argentinien lebt.

Nach dem Kriege mit bescheidenen Mitteln wieder bewohnbar gemacht, hat das Haus all seinen ehemaligen Glanz eingebüßt. Verschwunden sind Teppich, Marmor, Zentralheizung, die herrschaftlichen Mieter, das Trinkgeld. Die ehemalige Dienstwohnung gehört nun den italienischen Pächtern der Gaststätte im Vorderhaus, Kubitzkys mußten mit der dunklen Parterrewohnung im Seitenflügel vorliebnehmen. Nachts huschen wohlbeleibte Ratten über den Hof und die Studenten aus dem fünften Stock. In den Wohnungen stehen Kachelöfen, einige der Balkons sind baupolizeilich gesperrt, werden aber dennoch furchtlos benutzt. Von der ehemaligen Pracht zeugt nur noch ein unversehrt gebliebenes Glasfenster im Treppenhaus. Schmale Bleistege halten die farbigen Scheiben, auf denen sich Rohrkolben und Seerosen um einen Frosch scharen. Dem Angebot eines Antiquitätenhändlers gegenüber war das Hauswartsehepaar standhaft geblieben, letzten Endes ist das Fenster schließlich ein sehr persönliches Erinnerungsstück an bessere Zeiten.

Die Bewohner des Hauses nennt Frau Kubitzky „Grobzeug“ und „Gesindel“, aber nur im Vertrauen, in das sie allerdings jeden Mieter abwechselnd zieht. Sie nähert sich leutselig, fragt nach dem Ergehen, den Enkeln, den Sonderangeboten im Supermarkt und äußert sich in langen Klagen über die anderen Mieter, ungeachtet schwerer Taschen, die der Angesprochene nur deshalb nicht absetzt, um schneller weiterzukommen. Wenn Frau Kubitzky dann nach angemessener Zeit verbindlich lächelnd Abschied nimmt, eilt sie zurück durch die stets offene Wohnungstür, um sich einen stärkeren Kaffee zuzubereiten, das Mittagessen aufzusetzen oder sich zu ihrem Mittagsschlaf niederzulegen.

Im Hinterhaus gibt es im fünften Stock eine Studentenwohngemeinschaft, unter ihr lebt eine blinde alleinstehende Dame mit Pudel, die übrigen Mieter sind Lehrer, Arbeiter und ein pensionierter Postbeamter. Im Vorderhaus wohnt im Obergeschoß ein arbeitsloser Zauberer mit seiner 70jährigen Schwester, zwei Etagen werden von der vielköpfigen italienischen Familie genutzt, die unten das Restaurant betreibt, die restlichen Wohnungen sind in der Hand wechselnder Wohngemeinschaften. Seit es die italienische Kneipe gibt, in der Herr Kubitzky jederzeit auf ein Bier mit Korn herzlich eingeladen ist, geht es mit dem Mann bergab. Sein Körpergewicht schwindet, das Gesicht wird grau und grauer, die Nase rot und großporig. Ab und an rafft er sich bei aller Hinfälligkeit zu eindrucksvollem Randalieren auf, steht schwankend im Hof, uriniert an den einzig blühfähigen Goldregen und brüllt zu den Fenstern hinauf: „Saubande verfluchte! Vergasen das ganze Gesindel! Wann zieht ihr endlich aus, ihr Schweine... jetzt hole ich die Polizei“ und so fort. Da aber die Kräfte beschränkt sind und Frau Kubitzky sofort zur Stelle ist, läßt er sich willig abführen und in der Stube aufs Sofa legen. Den Mietern liest sie jeden Kommentar zu diesen Vorfällen von den Lippen ab, schimpft selbst sofort und kräftig auf den alten Trunkenbold und droht, ihn in eine Anstalt einweisen zu lassen, wenn das so weitergehe.

An einem Winterabend kurz vor Weihnachten kommt die Ambulanz. Herr Kubitzky lag im Hof, rund um seinen Kopf hatte sich der Schnee rot gefärbt. Zwei kräftige Männer tragen ihn auf der wippenden Bahre davon, drei Tage später ist er tot. Schädelbruch infolge eines Sturzes. Zum Weihnachtsfest wird von den Mietern Geld gesammelt, man überreicht es Frau Kubitzky mit herzlichem Beileid, Herr Fiorillo hat 300 Mark gegeben und der Zauberer bringt einen Kuchen, den seine Schwester gebacken hat. Frau Kubitzky ringt mit den Tränen und wischt noch am selben Abend die Vorderhaustreppe bis zum dritten Stock feucht auf. Über die Weihnachtsfeiertage malt sie mit roter Tusche Namensschilder für den „stummen Portier“ in zittriger Frakturschrift. Ende Februar fällt sie beim Kohlenholen die Kellertreppe hinunter. Ein Sohn des Italieners hört das Jammern und bringt sie mit Hilfe des Vaters in ihre Wohnung hinauf. Man versorgt sie mit Essen, legt Briketts nach und fragt, ob man den Arzt rufen soll. Sie will keinen, und bereits zwei Tage später sieht man sie im Hof herumhumpeln und Asche streuen. Das Bein ist verbunden, es sei geschwollen, erzählt sie, aber das werde schon wieder.

Die Mieter gewöhnen sich allmählich an den Anblick und fragen nicht mehr. Daß sie fortan die Wade bis zum Knie und den ganzen Fuß dick mit Bolle-Plastiktüten umwickelt und verschnürt, hält man für eine persönliche Marotte. Sie entwickelt große Zuneigung zu einem Jurastudenten und seiner Freundin, die im ersten Stock Vorderhaus eingezogen sind. „Wissen sie, mein Mann und ich, wir hatten ja keine Kinder... erst der Krieg und dann nichts zu Essen...„erklärt sie den beiden, wenn sie sich zur Wohnungstür hochgeschleppt hat, um auf einen Kaffee vorbeizuschauen. Eines Tages klopft sie mit dem Knöchel gegen die Wand des Berliner Zimmers und sagt: „Hier muß es sein.“ Tatsächlich befindet sich unter den alten Tapetenschichten ein Wandsafe, circa 80 mal 80 groß. Nach einigen Tagen hat sich in ihrer Wohnung auch der passende Schlüssel gefunden, man öffnet feierlich, aber die beiden Fächer sind leer. Frau Kubitzky läßt sich seufzend in den Sessel niedersinken, umweht von einem merkwürdigen Geruch nach faulendem Fleisch. Der Student schenkt ihr Kaffee ein, sie trinkt ein Schlückchen und sagt nachdenklich: „Ja, das war die Wohnung vom Doktor Blumenthal. Rechtsanwalt und Notar, ein feiner Herr. 1938 ist er verschwunden über Nacht, hat alles zurückgelassen. Einige Wertsachen haben wir an uns genommen, für später, wenn der Mann mal wiederkommt, aber er hat sich nie mehr gemeldet. Wir haben nichts angerührt, nichts verkauft, nur vom Geschirr ist kaum was übrig, mein verstorbener Mann war ja so grob mit allem...“

Einige Zeit später beginnt sie, dem jungen Paar Geschenke zu machen. Zuerst übergibt sie dem Studenten eine große Silberstiftzeichnung in goldenem Stuckrahmen, das Portrait eines bärtigen älteren Mannes. Es folgen mehrere Kristallgläser, etwas Silberbesteck, ein Paar knochenharter Schnweinslederhandschuhe, ein Familienalbum und eine chinesische Bodenvase aus dem 17.Jahrhundert, mit höfischen Szenen bemalt. „Wer weiß, ob der Herr Doktor überhaupt noch lebt, und ich kann die Sachen ja nicht verwenden...“, beschwichtigt sie die gemischten Gefühle der Beschenkten. Der Form halber schreiben sie sich den Namen des Doktors auf und versuchen beherzt, den immer durchdringender werdenden Gestank zu ertragen, der dem Bein Frau Kubitzkys entsteigt. Sie sind nun zu Dank verpflichtet und dulden immer längere Besuche, ohne sie, wie zuvor, durch irgend einen Vorwand abzukürzen. Sie erzählt von den alten Mietern, dem Krieg, den Aufbaujahren und der Säuferkarriere des Mannes.

Eine Woche lang läßt Frau Kubitzky sich nicht blicken. Die Mieter hören in der Wohnung das Radio spielen und sind froh, daß sie nicht herauskommt. Nach einer weiteren Woche klopft der Jurastudent ans Küchenfenster und als keine Antwort gegeben wird, öffnet er vorsichtig die Tür und tritt ein. Er findet Frau Kubitzky auf dem Küchensofa liegend, tot. Im Radio läuft der Werbefunk, der Ofen ist kalt. Wenig später kommt das herbeigerufene Rettungsfahrzeug, die Leiche wird abtransportiert. Drei Männer, die von der Hausverwaltung zur Wohnungsauflösung geschickt werden und alles in einen Container werfen, berichten, daß die Frau wohl an Blutvergiftung gestorben sei. Das Bein sei bereits vollkommen in Verwesung übergegangen, ein Knochen soll herausgeragt haben.

Zwischen dem Mobiliar, das als Sperrmüll neben den Container gestellt worden war, befindet sich auch ein großer in Packpapier eingehüllter Perserteppich. Die Kinder des Italieners schnüren das Papier auf, sie entrollen den Teppich und schreien auf vor Ekel. In der Höhe des ehemaligen Flors ringelt und windet sich eine grauweiße Schicht von Maden. Die schon ausgeschlüpften Motten taumeln nach allen Seiten davon.

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