: Bratwurstduft vor dem Reichstag
■ Rund 50.000 Teilnehmer versammelten sich zur ersten gemeinsamen Ost-West-Gewerkschaftskundgebung zum 1. Mai seit 1947 / Die Ostgewerkschaften und die Arbeiterparteien trafen sich im Lustgarten / Die „Einheit“ war brüchig
Es scheint Lichtjahre her zu sein, aber es war noch voriges Jahr: Da zogen abkommandierte Werktätige mit vorgegebenen Vorwärtslosungen an der SED-FDGB Tribüne im Lustgarten vorbei, Tausende von Stasibütteln sorgten für Hurrastimmung und Einheitsfront. Stundenlang dauerte das militärisch organisierte Ritual, verlogen war es, aber den Mut sich zu verweigern fanden wenige. Unter fünf Stunden lief der Kampftag der Arbeiterklasse nicht ab, weniger als 750.000 wurden seit 1948 nie gezählt.
Wo waren die Massen jetzt? Auf jeden Fall nicht dort, wo der FDGB sie sich erhoffte. Die Kundgebung im Lustgarten, geplant als Auftakt zum Maiwandertag Richtung Reichstag, war spärlichst besucht, die traditionellen Arbeiterlieder klangen schütter und kläglich. „Reih dich ein in die Arbeiter-Einheitsfront“, sang die PDS in den leeren Straßen. Aber da waren nicht viele, um sich einzureihen, und von „Einheitsfront“ konnte nicht die Rede sein. Die Gräben zwischen SPD-Ost und allen koalitionsfremden Parteien scheinen unüberbrückbar zu sein. Aus Protest gegen vereinigungsfeindliche Brandreden der linken Splitterparteien und noch vor der Rede der FDGB-Vorsitzenden Helga Mausch verließen die SPD-Genossen mit ihren roten Fahnen den Lustgarten und zogen in kleinen Grüppchen Richtung Brandenburger Tor. Es muß für Gregor Gysi demütigend gewesen sein, die Genossen aufzufordern, den „Anschluß“ nicht zu verlieren und sich schnell in den gemeinsamen Demonstrationsszug einzureihen.
Laut an diesem sonnigen Tag war aber nicht die PDS, sondern die KPD. Auf riesigen Transparenten warnten sie vor „einem Vierten Deutschen Reich“, beschworen einen „real vorhandenen“ Nationalchauvinismus. Die SPD-Marschierer waren empört, „verbieten sollte man diese Hetzer“ hieß es am Rande.
Der Demonstrationszug aus dem Osten, inzwischen auf rund 15.000 angewachsen, erreichte noch halbwegs geschlossen das Brandenburger Tor. Zweigeteilt, links die PDS und rechts die SPD, zogen die Erben der Arbeiterbewegung auf in den Westen. Vereinigt wurde sich auf dem Platz der Republik, um 50.000 mögen es dort gewesen sein.
Die Demonstrationszüge aus dem Westen wurden angeführt von der politischen Prominenz der Stadt. Walter Momper, der sich noch im vorigen Jahr leutselig unter die Menge mischte, war dieses Jahr abgeschirmt von Bodyguards, seine Gesprächspartner waren Michael Pagels und Ernst Breit. Der DGB-Vorsitzende war auch der Hauptredner der Kundgebung. Er warnte die Unternehmer in der BRD, die Entwicklung in der DDR für einen Sozialabbau zu mißbrauchen. Manche westdeutsche Unternehmer, sagte er, träumten von einem neuen Niedriglohnland und hofften, die DDR als Einfallstor für Sozialabbau in der BRD oder in einem geeinten Deutschland nutzen zu können. Die Angst vor Massenarbeitslosigkeit und Sozialabbau formulierten auch die Redner der Ostgewerkschaften. Einig war man sich, daß nur starke und demokratische Gewerkschaften die Weichen für eine sozial und ökologisch vertretbare Marktwirtschaft stellen können.
Ob es nun an der Sonne oder an dem reichlich fließenden Bier lag, die wenigsten auf dem Platz vor dem Reichstag hörten den Reden aufmerksam zu. Mann, Frau und Kind waren gekommen, weil man immer kam, nicht weil dieser 1.Mai ein besonderer war. Die Veranstalter hatten das Maifest lieblos vorbereitet, die Energie hatte sich darin erschöpft, dieses erste Maifest nach 43 Jahren Scheidung reibungslos ablaufen zu lassen. Die Chance, ein lebendiges, abwechslungsreiches und buntes Kulturprogram zu organisieren, ein wirkliches Ost -West-Fest vom Reichstag bis zum Pariser Platz zu feiern, wurde vertan. Hier wie dort präsentierten sich Bratwurststände und fliegende Händler mit Billig-T-Shirts. Die Abertausende, die über die kontrollfreien Grenzen am Brandenburger Tor und Potsdamer Platz hin- und herflanierten, atmeten überall den gleichen Duft des einfallslosen deutschen Miefs ein. Nur die Sonne brannte, und das war schön.
aku
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