: SOS-Rassismus: Mit einem Bein im Ghetto
Bis Montag versuchten die Vertreter der französischen Anti-Rassismus-Organisation SOS-Racisme ihre Politik neu zu formulieren ■ Aus Paris Alexander Smolczyk
„Wir lieben alle das gleiche Land.“ So stand es - lieb und nett wie in alten Tagen - über der Turnhalle in Longjumeau bei Paris, wo sich bis Montag die 300 Komitees von „SOS -Rassismus“ zu ihrem dritten Kongreß versammelt hatten.
Doch die Zeiten sind andere geworden, und so hätte auch ein anderes Wort über dem Treffen hängen müssen: „Ghetto“ - ein Wort, das aus dem Wortschatz zu verdrängen die Organisation seit 1984 bemüht ist und das nun wie kein anderes ihre eigene, heikle Lage beschreibt.
Erstes Ghetto: das eigene. „SOS-Rassismus“, die Bewegung der „Mach meinen Kumpel nicht an„-Generation, hat die Meinungsführerschaft in Sachen Moral in Frankreich verloren. Seit ihr Präsident Harlem Desir bei der famosen „Kopftuch -Affäre“ im letzten Herbst für einen toleranten Umgang mit islamischen Schülerinnen eingetreten ist, zeigt man sich auch als Sozialist nicht mehr gerne mit ihm. Im Gegenteil: Manche Sozialisten-Führer verdächtigen die Organisation, mit ihren Aktionen etwa in Schulen den Rassismus noch zu provozieren. „Alles was wir sagen, alles was wir tun, wird falsch interpretiert. Als ob man uns in einen Sündenbock verwandeln möchte“, meint Desir heute. Er wirft Premierminister Michel Rocard vor, bei der Suche nach einem Konsens mit der bürgerlichen Rechten die essentials des linken Anti-Rassismus zu opfern: „Zur Zeit beschränkt sich die Politik auf Immigrationsfragen“ - von Integration, von Wahlrecht und der „Schönheit des Mestizen“ ist keine Rede mehr.
„Wenn Le Pen immer mehr Erfolg hat, dann deswegen, weil die Politiker nicht zu ihren Werten stehen. Le Pen dagegen sagt was er denkt“, erklärte D'esir in einem Gespräch mit 'Liberation‘. Es könne keinen Konsens geben mit einer Rechten, die den Diskurs von Le Pen übernommen hat und Ausländer etwa von Leistungen der Sozialversicherung ausschließen möchte.
Mit der wachsenden Distanz zur Sozialistischen Partei wächst unter den Mitgliedern die Bereitschaft, die politische Autonomie nun auch zu nutzen, sprich: mit eigenen Listen bei den nächsten Regionalwahlen anzutreten. Eventuell gemeinsam mit den Grünen, deren Vorsitzender Antoine Waechter auch der einzige Spitzenpolitiker war, der in Longjumeau einen Gastbeitrag halten durfte. Eigene Wahllisten wären aber - deshalb zögerte man noch mit einer Entscheidung - auch das Eingeständnis, daß die „Kumpel“ beim Marsch durch die Partei-Institutionen gescheitert sind.
Hauptgegenstand des Kongresses waren jedoch die anderen, sehr realen Ghettos, jene rund 400 Fertigblock-Siedlungen, in denen die Städte ihre Immigranten zwischenlagern. „In den letzten zehn Jahren hat nicht die Integration, sondern die Ausgrenzung zugenommen“, sagte Harlem Desir. „Zum ersten Mal beginnen die Städte Frankreichs den amerikanischen zu ähneln.“ In der „Metissage“, der Mischung, lag für die französischen die Würze. Das am Montag verabschiedete Grundsatzmanifest fordert deshalb eine „Neue Städtebaupolitik“: Durchmischung der Nationalitäten bei der Zuteilung von Sozialwohnungen, Zwangsvermietung von Leerstand sowie die Verteilung farbiger Schüler auf Schulen in „weißen Vierteln“ nach amerikanischem Vorbild. Außerdem sollen - zu den drei schon bestehenden - weitere „Kumpel -Häuser“ in den Vorstädten eingerichtet werden. „SOS muß zu einer Vereinigung werden, die weniger glitzert, weniger glänzt. Jetzt müssen wir vor Ort arbeiten“, resümierte SOS -Gründer Julian Dray. Denn, so das Manifest: „Wenn die Stadt (cite) zum Ghetto wird, zur nicht-urbanen Zone, dann wird sie auch zur citoyen-freien Zone“.
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