: Anfang vom Ende eines Rituals?
■ Die ganz große 1.-Mai-Randale in Kreuzberg blieb in diesem Jahr aus
Tiefes Durchatmen auf (fast) allen Seiten kennzeichnet den Tag danach. Der ganz spezielle „Tanz in den Mai“ in Berlin Kreuzberg verlief - nimmt man die ritualisierten Veranstaltungen seit dem 1. Mai 1987 zum Maßstab glimpflich. Die von vielen befürchtete, von manchen auch bewußt oder unbewußt angeheizte Eskalation der Gewalt fand nicht statt. Die Frage nach dem Warum dieser Bilanz wird von der Polizei und den verantwortlichen Politikern wenig überraschend als militärtaktischer Erfolg ihrer Einsatzstrategie beantwortet. Die Akteure der anderen Seite werden sich die günstige Gelegenheit nicht entgehen lassen, die Berliner Öffentlichkeit, taz inklusive, der Stimmungsmache im Vorfeld zu überführen. Damit entfällt für diejenigen, die auf den sozialpsychologischen Ausbrüchen einer marginalisierten Minderheit wie in jedem Jahr ihr politisches Süppchen kochen wollten, das Eingeständnis einer herben Niederlage.
Natürlich war auch an diesem 1. Mai Randale angesagt, es sollte nur etwas mehr Gehirnschmalz auf die „Vermittelbarkeit“ verwendet werden. Doch der Schock des Vorjahres, als die Abfackler selbst vor einer Tankstelle nicht zurückschreckten, wirkte offenbar stärker nach, als die einen fürchteten und die anderen zu hoffen wagten. Die Zerstörungswut nach der rot-grünen Machtübernahme und die Distanzierung praktisch der gesamten alternativen Szene danach hatte jetzt ein greifbares Resultat: weniger Straßenkämpfer, weniger Gaffer, mehr Polizei.
Der 1. Mai 1990 könnte als Anfang vom Ende eines gruseligen Rituals in die Annalen von Berlin-Kreuzberg eingehen. Die Militanten, die weiter glauben mögen, Gesellschaft und Staat nur noch mit Pflastersteinen und Mollis bekämpfen zu können, werden begreifen müssen, daß die Fixierung auf nichts weiter als einen Termin sich selbst denunziert. Diese Form der programmierten Randale ist denkbar ungeeignet, irgend jemanden von den politischen Motiven der Akteure zu überzeugen. Es könnte sein, daß sich die „Politiker“ innerhalb der autonomen Szene künftig Anlässe suchen und nicht Termine.
Das „Gewaltpotential“ allerdings wird dieser Industriegesellschaft auf lange Sicht erhalten bleiben - wie jeder Gesellschaft, die zum natürlichen Prinzip erklärt, daß es Gewinner und Verlierer eben geben muß. Da nutzen alle wütenden „Kopf-ab-Phantasien“ nichts, die vor und nach jeder neuen Kreuzberger Nacht Teile der Öffentlichkeit beschäftigen. Solange den hier geborenen türkischen Jugendlichen per Ausländergesetz unmißverständlich signalisiert wird, daß auch ihre Urenkel in Kreuzberg noch Ausländer sein werden, solange diese Gesellschaft keine Bereitschaft zeigt, sich „multikulturell“ weiterzuentwickeln, wird sich die Situation verschärfen auch wenn die verbalen Begründungen der marginalisierten Randalierer in den Ohren vieler beliebig klingen.
Gerd Rosenkranz
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