...und der atomare Status von Großdeutschland?

Die Wiedervereinigung Deutschlands und die (sicherheits -)politische Neuordnung Europas werden bei etlichen internationalen Treffen in diesem Jahr ganz oben auf der Tagesordnung stehen: bei den heute beginnenden 2+4 -Gesprächen, auf der Nato-Frühjahrstagung und der KSZE -Konferenz im Herbst. Während dabei viel über Bündniszugehörigkeiten und Übernahmekonditionen geredet wird, gerät eine wichtige Frage in den Hintergrund: die des atomaren Status der BRD oder eines wiedervereinigten Deutschlands.

Ersteres war in den vergangenen 40 Jahren immer wieder Anlaß zu heftigen Auseinandersetzungen. Die sicherheitspolitischen Debatten der 50er und 60er Jahre durchzog ein Jammern über die „atomare Diskriminierung“, und immer wieder wurde der Ruf nach eigenen Atomwaffen laut. So beschaffte Verteidigungsminister Strauß den „Starfighter“ als Atomwaffenträger, und Außenminister Schröder drohte 1965 gar mit der atomaren Bewaffnung, wenn die BRD weiterhin bei der Verfügung über Atomwaffen außen vor bliebe. Als Konsequenz aus der deutschen Schuld am Zweiten Weltkrieg hatte die BRD beim Beitritt zur Westeuropäischen Union (WEU) bzw. zur Nato 1954 auf die Herstellung von Atomwaffen auf eigenem Territorium verzichten müssen. Nach heftigen innenpolitischen Kontroversen ratifizierte die BRD im Jahre 1974 mit dem Atomwaffensperrvertrag einen weitergehenden Verzicht als im WEU-Vertrag, da letzterer jeden Erwerb von Atomwaffen untersagt. Die bisherigen Bundesregierungen wiesen alle Anschuldigungen zurück, die BRD strebe eine Verfügung über eigene Atomwaffen an. Solche Vorwürfe konnten sich allerdings auf eine endlose Kette von Indizien stützen

-angefangen von Strauß‘ Starfightern und den Drohungen Schröders über die vom SPD-Abgeordneten Hermann Scheer enthüllte Atomwaffenforschung am Fraunhofer-Institut in den 70ern bis hin zum Gezerre um die Pershing1a.

Auch der jetzige angebliche abrüstungspolitische Kurs der Bundesregierung im atomaren Bereich gilt nur für Atomwaffen, die künftigen MitbürgerInnen aufs Haupt fallen können, also landgestützten Kurzstreckenraketen der Lance-Nachfolge. Demgegenüber ist eine grundsätzliche Wende in der Logik atomarer Abschreckung weder auf der Hardthöhe noch im Brüsseler Nato-Hauptquartier zu erkennen. Statt dessen wird an neuen Feindbildern gebastelt, gegen die konventionell und atomar weitergerüstet werden darf. Denkbar wäre das BRD- und Nato-Militär als „Ordnungsfaktor“ für das unruhige Osteuropa, wenn Gorbi die Kontrolle verliert. Oder aber irgendwelche „Terroristen“ drehen mal wieder den Ölhahn zu, und es gilt Schiffahrtswege zu „befreien“.

Um den sensiblen Vereinigungsprozeß nicht zu gefährden, wird über atomare Ambitionen der BRD aktuell nicht offen geredet. Doch es gibt sie nach wie vor.

Am 15. März, also drei Tage vor der DDR-Wahl, debattierte der Bundestag - von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet - über den am 1. September 1989 durch die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf „Atomwaffenverzicht im Grundgesetz“. Der Antrag nahm Lücken in den erwähnten Atomwaffen-Verzichtserklärungen zum Anlaß, einen umfassenden Verzicht der BRD in der Verfassung festschreiben zu wollen. Keine der drei Altparteien mochte sich positiv auf den Antrag beziehen. Ein solcher stünde der BRD wie auch einem wiedervereinigten Deutschland gut an, um bestehenden Befürchtungen gegenüber deutschen Großmachtinteressen entgegenzuwirken. Wie sich die Parteien darum herumdrückten, sollte - auch bei den internationalen Verhandlungspartnern der BRD - eher Zweifel wecken.

1990: Überprüfung

vor Auslaufen des

Atomwaffensperrvertrages

Auf Betreiben der BRD wurde der Atomwaffensperrvertrag seinerzeit nicht unbefristet formuliert, sondern auf 25 Jahre begrenzt. In diesem Jahr findet vom 20. August bis zum 14.September mit der vierten zugleich die letzte Überprüfungskonferenz jenes Vertrags vor seinem Auslaufen 1995 statt. Den Artikel IV - „alle Vertragsparteien verpflichten sich, den weitestmöglichen Austausch von Ausrüstungen, Material und wissenschaftlichen und technologischen Informationen zur friedlichen Nutzung der Kernenergie zu erleichtern...“ - nutzte die BRD mit dem Aufbau eines gigantischen „zivilen“ Atomprogramms. Um die Verbotsbestimmungen des Vertrages scherte sie sich dagegen einen Dreck, was die Atomskandale in Hanau seit der dritten Überprüfungskonferenz 1985 veranschaulichten. Erst vor ein paar Wochen beschuldigten die Autoren einer Studie der Washingtoner Carnegie-Friedensstiftung die BRD, durch Atomexporte Länder wie Pakistan, Indien, Brasilien und Argentinien zu Atomwaffen verholfen zu haben. Diese Skandale können auf der Überprüfungskonferenz nur dann relativ konsequenzlos übergangen werden, wenn Washington mitspielt. Die BRD konnte bislang recht gut mit dem Atomwaffenvertrag leben und würde einer Verlängerung über 1995 hinaus vermutlich zustimmen. Auch deshalb, weil er für die BRD eine „Europäische Option“ beinhaltet:

Atomare Mitverfügung

durch die

„Europäische Union?“

Parallel zu den Planungen für die europäische Wirtschaftsunion bis Ende 1992 startete Kanzler Kohl vor kurzem zusammen mit Frankreichs Präsident Mitterand die Initiative zur Schaffung einer „Europäischen Politischen Union mit gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik“. Auch hier ergibt sich ein interessanter Zusammenhang mit bundesdeutschen Atommachtsoptionen. Bei Ratifizierung des Atomwaffensperrvertrags nämlich hatte die BRD auf die Zusage der USA verwiesen, daß bei Schaffung eines europäischen Bundesstaates dieser den nuklearen Status einer der beteiligten Nationen übernehmen kann - also den von Frankreich beispielsweise. Da ganz offenkundig derzeit in Bonn bestimmt wird, wie die eropäische Einigung erfolgen wird, ist zu erwarten, daß die BRD die Übernahme des atomaren Status auch für sich wird durchsetzen können, wenn sie es will.

BRD-Vertragspflicht

gesamtdeutsche

Vertragspflicht?

Der aktuelle Streit, ob die Abtreibung rechtlich nach BRD oder DDR-Recht geregelt werden soll, ist beispielhaft für die juristischen Probleme, die mit der Wiedervereinigung kommen werden. Zwar achtete die BRD in der Vergangenheit hinsichtlich einer möglichen Wiedervereinigung immer darauf, daß besonders beim Beitritt zu internationalen Verträgen ein Gleichschritt zwischen BRD und DDR eingehalten wurde. Doch Sondererklärungen erfolgten meist einseitig. So wie der Anschluß der DDR momentan vollzogen wird, besteht allerdings wenig Hoffnung, daß bei einer Rechtsangleichung zwischen BRD und DDR auch nur kleine juristische Riegelchen gegen zukünftige gesamtdeutsche Atommachtoptionen übernommen werden können, die den jetzigen BRD-Standard aus herrschender Sicht „verschlechtern“.

Realismus ist also angesagt. Noch stützt sich das Vorenthalten einer (Mit-)Verfügung der BRD an atomaren Waffen wesentlich auf das deutsche Eingeständnis der Kriegsschuld. Doch bei der bevorstehenden Wiedervereinigung hat dieses Argument als Ablehnungsgrund bereits versagt. Ohne eine besondere Aufmerksamkeit der bundesdeutschen Öffentlichkeit sowie innen- und außenpolitischem Widerstand wird der Weg zu einer deutschen Atommacht mittelfristig nicht zu verhindern sein.

Hans-Peter Hubert

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag.