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Zwischen Widerstand und Anpassung

Vor 50 Jahren besetzten deutsche Truppen die Niederlande / Während der fünfjährigen Okkupation bestand die Zivilverwaltung weiter / Die Nationalsozialisten hofften auf die „Selbstnazifizierung“ der Niederländer / Widerstand und Kollaboration / Im „Hungerwinter“ kurz vor Kriegsende starben 20.000 Menschen  ■  Von Paul Stoop

In Deutschland soll eine Ära zu Ende gehen - die Nachkriegszeit. Während man hier eifrig bemüht ist, ein Kapitel der Geschichte zu schließen und zu den Akten zu legen, bleibt für die europäischen Nachbarn manches offen. In den Ländern, die einst unter dem deutschen Willen, Geschichte zu machen, leiden mußten, zeigt sich nicht nur bei „runden“ Jahrestagen der Kriegsereignisse, daß die Erinnerung an die Erfahrung in Krieg und Besatzung nicht verblaßt ist.

Dagegen ist das Wissen um diese Erfahrungen und das Verständnis für diese Erinnerung in der Bundesrepublik bis heute sehr gering.

So betrachten auch die Niederländer, 50 Jahre nach dem Überfall auf ihr Land, die Deutschen noch immer mit skeptischem Blick: Der Schock des fünftägigen Feldzuges im Frühling 1940, die Bombardierung Rotterdams am 14. Mai trotz vorheriger Kapitulation, die Leiden unter der fünfjährigen Okkupation und vor allem die Deportation eines Teils ihrer Mitbürger - all das ist für die Betroffenen auch nach Jahrzehnten noch nicht abgetan.

Die Hoffnung, eine strikte Neutralitätspolitik - die sich während des Ersten Weltkriegs bewährt hatte - werde das Land vor den Expansionsgelüsten der Nazis schützen, erwies sich am 10.Mai 1940 als Illusion. Der „Blitzkrieg“ bescherte den Niederländern die erste Fremdherrschaft seit dem Einmarsch der napoleonischen Truppen 1795 - man fürchtete das Schlimmste.

Doch die deutsche Zivilverwaltung unter dem „Reichskommissar für die besetzten niederländischen Gebiete“, Arthur Seyss-Inquart, gab sich anfangs überraschend zurückhaltend: keine Terrormaßnahmen und keine allgemeine Gleichschaltung. Es hatte zunächst den Anschein, als setzten die Nazis auf die „Selbstnazifizierung“ des „germanischen Brudervolkes“. Abgesehen von ersten vereinzelten Widerstandsaktionen, etwa der Herstellung illegaler Schriften und den Demonstrationen kleiner Gruppen, arrangierte man sich erst einmal. Warum sollte man angesichts der deutschen Vorherrschaft in Europa, die nach dem erfolgreichen Frankreichfeldzug festzustehen schien, nicht kooperieren und versuchen, auf die Besatzer einzuwirken, die doch Respekt vor den nationalen Traditionen bekundet und ausdrücklich erklärt hatten, in den Niederlanden gebe es keine „Judenfrage“.

Gleichschaltung

So arbeiteten die nach der Flucht von Königin und Kabinett als höchste Verwaltungsinstanz verbliebenen Staatssekretäre der Haager Ministerien unter den neuen Machthabern zunächst weiter - und die Masse der Beamten und Staatsangestellten tat es ihnen gleich. Das politische Vakuum wurde gefüllt von der „Niederländischen Union“, einer neugegründeten Sammlungsbewegung, die mit Unterstützung der Besatzungsmacht innerhalb eines Jahres 800.000 Mitglieder rekrutierte. Ein Zehntel der Bevölkerung ersehnte den von der „Union“ propagierten Neubeginn, die „nationale Einheit„; darunter waren Konfessionelle, Liberale und auch viele Sozialdemokraten. Die „Union“ wandte sich gegen die aggressiv kollaborierende Partei des niederländischen Faschisten Anton Mussert, dessen „Nationalsozialistische Bewegung“ (NSB) schon 1935 ein Wahlergebnis von acht Prozent erzielt hatte. Die vorwiegend aus Konservativen bestehende Führung der „Union“ setzte auf das Arrangement mit den Deutschen, um dadurch Einfluß nehmen zu können - wenn auch erst nach Beendigung des Krieges und in Erwartung der deutschen Hegemonie in Europa.

Im Februar 1941 zeigte sich allerdings, daß die „Selbstnazifizierung“ nicht so reibungslos funktionierte. Nach einer Razzia im Amsterdamer Judenviertel, bei der über 400 Juden verschleppt wurden, kam es zu einem Generalstreik als Zeichen der Solidarität mit den jüdischen Mitbürgern. Der zwei Tage währende „Februaraufstand“ wurde brutal unterdrückt. Als Folge dieses ersten Aufbegehrens wurden Tausende niederländischer Männer zwangsverpflichtet und zum Arbeitsdienst in der deutschen Rüstungsindustrie verschleppt. Bis Kriegsende waren es insgesamt 270.000, die mithelfen mußten, die Kriegsmaschinerie in Gang zu halten.

Ausweispflicht

Jeder ältere Niederländer erinnert sich an den Inbegriff deutscher Ordnungsmanie und Befehlssucht: Das Wort „Ausweis!“ ist seither fast ein Schimpfwort und mit ein Grund dafür, daß dieses Dokument, mit dem der Staat seine Bürger erfaßt und kontrollierbar macht, bei den Niederländern bis heute nicht durchsetzbar ist. 1941 wurde der Personalausweis für jeden Bürger eingeführt, den Juden wurde ein J hineingestempelt. Kein Protest behinderte die sich über Monate hinziehende Prozedur der Einführung dieses Dokuments, mit dem die Juden administrativ ausgesondert wurden. Formen von landesweit vernetztem Widerstand entwickelten sich erst seit Beginn der Massendeportationen im Sommer 1942 und der militärischen Wende zugunsten der Alliierten 1942/43. Im niederländischen Untergrund blühte schon bald die Widerstandspresse: Viele der großen überregionalen Zeitungen wie 'Trouw‘, 'Vrij Nederland‘ und 'Het Parool‘ sind als Waffe gegen die Besatzer entstanden.

Trotz fortwährender Anschläge des bewaffneten Widerstands gegen Eisenbahnen, militärische Anlagen und auf SS -Angehörige und Kollaborateure hatten die Deutschen jedoch bis zum Mai 1945 die Niederlande fest im Griff und das Leben unter der Besatzung verlief weitgehend „normal“. Das Wirtschaftsleben wurde nicht behindert oder entscheidend sabotiert, die Polizei leistete den Besatzern weitgehende Unterstützung.

Zu einer wesentlichen Verschärfung der Situation kam es erst durch den zunehmenden Terror gegen die Zivilbevölkerung, die hemmungslose wirtschaftliche Ausbeutung des Landes, die immer brutalere Rekrutierung von Zwangsarbeitern und die Einsetzung niederländischer Nazis in Schlüsselpositionen. Im September 1944 verbreitete sich das Gerücht, die Invasion der Alliierten stehe unmittelbar bevor: Die Niederländer feierten ihren „Dolle Dinsdag“ und die Deutschen zogen sich fast panikartig zurück. Doch man hatte sich zu früh gefreut, wie sich zeigen sollte. Mit neuem Selbstbewußtsein begannen die Besatzer nun systematisch die Infrastruktur des Landes zu demontieren. Sämtliche privaten und öffentlichen Verkehrsmittel wurden beschlagnahmt. Selbst die Hälfte der vier Millionen Fahrräder verschwand heim ins Reich. Ganze Teile Nordhollands, Zeelands und Utrechts wurden Anfang 1945 unter Wasser gesetzt. Der Norden war monatelang von der Steinkohleversorgung aus dem südlichen Limburg abgeschnitten, auf einer Lebensmittelkarte erhielt man im Januar 1945 340 Kalorien pro Person und Woche. In dieser akuten Versorgungsnot mußte die Zivilbevölkerung den strengsten Winter seit Jahren erdulden. Rund 20.000 Menschen starben kurz vor Kriegsende an den Folgen des „Hungerwinters“.

Gespanntes Verhältnis

Spannungsfrei ist das Verhältnis zwischen beiden Völkern 50 Jahre nach dem Überfall noch immer nicht. Das Bild vom häßlichen Deutschen, dessen Sprache vielen Nachbarn auch heute noch wie Befehlston in den Ohren klingt, verblaßt nicht, belebt sich gar immer wieder neu - und sei es auch nur bei Auseinandersetzungen auf dem Fußballplatz. Wiedervereinigungsszenarien und Deutschtümelei beobachten die Niederländer mit gebührendem Argwohn. Eine Umfrage unter Abgeordneten des Haager Parlaments hat vor kurzem ergeben, daß mehr als die Hälfte der Befragten anti-deutsche Gefühle hegt. Es ist kein Zufall, daß gerade ältere Deutsche im westlichen Nachbarland noch heute die Ressentiments zu spüren bekommen: Das Trauma der „bezetting“ sitzt tief.

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