Bald Unterricht „wie nach '45“?

■ Es werden immer mehr SchülerInnen in West-Berlins Grundschulklassen / Der Bedarf bis zum Jahr 1995: 30 Schulneubauten, 1.700 LehrerInnen / 1. Klasse in Kreuzberg: Bald auf 29 statt 22 SchülerInnen aufgestockt?

Kreuzberg. Was Sparstrategen in Behördenbunkern bisher nicht geschafft haben, holen Asbestfasern und die politischen Änderungen in Osteuropa nach: In West-Berlins Grundschulklassen sitzen immer mehr Schüler. Wie darunter der Unterricht leidet, zeigten jüngst Lehrer und Eltern der Adolf-Glaßbrenner-Grundschule in der Hagelberger Straße. Auf dem Schulhof wurden Schüler drei Tage in einem „gläseren“ Zelt unterrichtet.

Aber nicht nur diese Grundschule (800 Schüler, 58 Lehrer) muß befürchten, daß sich zum nächsten Schuljahr die Schülerzahl in den Eingangsklassen weiter erhöhen. In der Adolf-Glaßbrenner-Grundschule wird im kommenden Schuljahr die vorgesehene Klassenfrequenz von 22 Schülern (über 25 Prozent Ausländer-Anteil) auf 29 Schüler ansteigen. Doch bei mehr als 26 Schülern werden nicht einmal mehr die zusätzlich benötigten Lehrerstunden ausgeglichen.

Detlef Brandenburg (49), Schulleiter der Adolf-Glaßbrenner -Grundschule befürchtet, daß „wir bald gezwungen sind, wie nach '45 zu unterrichten“. Lehrer könnten immer weniger Rücksicht auf die individuellen Bedürfnisse der Schüler nehmen. Ein „binnen-differenzierter Unterricht“, bei dem sich in den Klassen verschiedene Arbeits- und Neigungsgruppen bilden können, würde durch steigende Klassenfrequenzen und enger werdenden Raum immer mehr unmöglich.

Nach Auskunft von Volksbildungsstadtrat Jordan ist der Bezirk Kreuzberg mit seinen 18 Grundschulen landesweit am härtesten vom Schülerzuwachs betroffen. Ein Schulneubau beim Anhalter Bahnhof sollte zum kommenden Schuljahr wenigstens räumliche Abhilfe schaffen. Doch durch die notwendige Asbestsanierung in anderen Schulen ist dieser Neubau bereits mit Schülern verplant. Zum Sommer werden nun noch acht Pavillons in der Fürbringerstraße fertig und im nächsten Jahr der Neubau in der Friedrichstraße.

Überhaupt: In keinen Westberliner Bezirken verspricht der Sprecher der Senatsverwaltung für Schule, Stefan Woll, Schülern eine lernfreundliche Zukunft: In den nächsten fünf Jahren werden etwa 24.000 Kinder Platz in Klassenzimmern brauchen, doch Behördenplaner haben sie bisher nicht eingeplant - die Aus- und Übersiedlerkinder hatten sich schließlich nicht vorher angemeldet. Was ja auch nicht so schlimm wäre, gäbe es trotz veralteter Behördenpläne wenigstens das nötige Geld. 24.000 Kinder wollen nämlich von 1.700 Lehrern unterrichtet werden, 30 Schulgebäude müßten her. Die Senatorin forderte deshalb vom Bund jährlich 180 Millionen Mark zusätzlich. Doch der Bund hat gerade mal jämmerliche 42 Millionen Mark jährlich aus dem Nachtragshaushalt bewilligt. Der Senat selbst hat schon letztes Jahr ein „Programm für mobile Klassenräume“ aufgelegt - zusätzlich ganze 24 Millionen Mark jährlich. Da das Geld hinten und vorne nicht reicht, wird der Senat 1991 von 440 benötigten Lehrern nur die Hälfte einstellen. Die unbesetzten 220 Stellen müssen mit Erhöhung der Klassenfrequenzen und Stundenausfall „ausgeglichen“ werden. Der Raummangel kann vielleicht mit Hilfe Ost-Berlins behoben werden: Es gibt Überlegungen, leere Schulräume nahe der Grenze zu nutzen.

Dirk Wildt