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DDR: Proteste gegen die Zukunft

■ Tausende von Arbeitern der Schuhindustrie und der Textilbranche traten gestern in den Warnstreik. Schulen und Kindergärten blieben wegen Streiks zeitweise geschlossen. Bauern blockierten mit Traktoren Grenzübergänge zur BRD. Der Protest richtet sich gegen die Folgen der überstürzten Vereinigung: Schon jetzt bleibt die DDR auf ihren Schuhen und anderen Waren sitzen.

Seit zwei Stunden schwitzt der Werkstattschlosser Arno Wybranietz (26) nun schon zwischen meterhohen Pappkartons und dem kleinen Campingtisch. Darauf stapeln sich Monatsbinden. „Hier meine Dame, unsere neue Sorte kostet nur zwei Mark zehn.“ Ein skeptischer Blick der Angesprochenen, dann winkt sie ab: „Nee danke, 'n ordentliches Klopapier wäre mir lieber.“ Betrübt senkt Wybranietz den Kopf. „Ich versteh‘ das nicht, es gibt doch genug Frauen, und Binden werden doch in der Republik jeden Tag gebraucht. Außerdem produzieren wir hochmoderne und anständige Qualität auf westdeutschen Anlagen.“

80 Pakete Binden aus dem VEB Plakotex im mecklenburgischen Friedland hat Wybranietz bisher verkauft, während die 160 Frauen im Betrieb weiter arbeiten. Sie haben sich nicht dem landesweiten Warnstreik der Gewerkschaft Textil-Bekleidung -Leder angeschlossen. „Solange wir wenigstens noch die Umhüllung der Binden, unseren hochwertigen Vliesstoff, loswerden“, seufzt der Schlosser, „muß ja weiter produziert werden.“ Außer dem Vliesstoff nimmt der Großhandel nichts mehr ab. An den Einzelhandel kommen die Betriebe mit ihren überquellenden Lagern nicht heran. Deshalb stehen die Schuh -, Socken- und Kleiderverkäufer aus den Betrieben heute rund um die Weltuhr am Alex. Sie haben zur Selbsthilfe gegriffen, fordern mit der „Sichtagitation“, wie ihre Gewerkschaft es nennt, „sichere Arbeitsplätze“. Auf einem Transparent klagt der „VEB Modezentrum: Warum sollen gerade wir pleite machen, wir nähen doch auch schöne Sachen“.

In der Tat, während die Binden-Dealer sich die Beine in den Bauch stehen, können die Verkäuferinnen am Stand für Kindersöckchen gar nicht so schnell gucken, wie ihre Stapel geringer werden. In der zwanzig Meter langen Doppelschlange begutachten zwei Mütter die Muster auf der Leine. „Guck mal, so was Schönes haste doch nie im Laden gesehen“, staunt die eine, „da gibt's entweder nüscht oder graues Plastikzeug und hier nur Baumwolle mit schönen Motiven“. Wütend stemmt die andere die Arme in die Hüften: „Kannst du mir mal sagen, wieso wir das nicht früher gekriegt haben? Soviel Kinder können die SED-Bonzen doch ooch nicht gezeugt haben!“ Dann stürzt eine Bekannte auf die beiden zu. „Wir gehen jetzt zur Volkskammer, kommt ihr mit?“ Nee, soweit reicht trotz aller Solidarität für die Textilarbeiter die Liebe nicht. „Laß mal, ick koof erst mal die Söckchen.“

Vor dem Palast der Republik werden die „Te-be-le„ -Arbeiterinnen und -arbeiter mit Gejohle und zwei kreischenden Motorsägen empfangen. Einige hundert Kindergärtnerinnen, Lehrerinnen und Lehrer, Holzfäller und Techniker aus Landwirtschaftsbetrieben machen einen Höllenlärm, haben die Bannmeile vor dem Parlament mit Hilfe eines Traktors kurzerhand durchbrochen und den Verkehr lahmgelegt. Hier haben die streikende Pädagogen das Sagen, die Arbeiterinnen und Arbeiter mit ihren wenigen Transparenten verschwinden in der Menge, die pausenlos „Meyer raus“ ruft. Der parteilose Bildungsminister Hans -Joachim Meyer, unterstützt von seiner SPD-Kollegin aus dem Ressort Arbeit und Soziales, redet, wie es sich für einen Politiker gehört: allgemein und unverbindlich. Aber das meiste geht sowieso im gellenden Pfeifkonzert unter. Nach dem Auftritt von PDS-Chef Gysi trollen sich die meisten Demonstranten mit der Drohung: „Wir kommen wieder.“ Nur wenige hören sich noch den genervten SPD -Fraktionsvorsitzenden Richard Schröder an. Der zerrt am Schlips und knurrt schließlich: „Ich kann euch doch auch nichts sagen. Was? Eine Resolution habt ihr auch noch? Gebt sie mal her, ich reich‘ sie weiter.“ Spricht's und entfleucht in die Parlaments hallen.

Unterdessen hat Arno Wybranietz 20 weitere Binden am Alex verkauft. Den Grund für diese geringe Zahl glaubt er jetzt zu kennen: „Hier müßten Frauen hinterm Tisch stehen.“

Petra Bornhöft

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