„Für ein freies und demokratisches Algerien“

■ Mindestens 150.000 Menschen nahmen in Algier am „Marsch der Demokratie“ teil / Veranstalter sprechen von einer Million Demonstranten, die gegen den Fundamentalismus auf die Straße gingen / Ben Bella, Algeriens 1965 gestürzter Expräsident, meldet sich wieder zu Wort

Algier (taz/afp) - In der algerischen Hauptstadt Algier fand am Donnerstag der lange angekündigte „Marsch der Demokratie“ statt. Die Schätzungen über die Beteiligung an der Großkundgebung gingen freilich weit auseinander. Während in Korrespondentenberichten von etwa 150.000 Menschen die Rede war, sprachen die Veranstalter von einer Million, die amtliche Nachrichtenagentur 'aps‘ will gar - trotz strömenden Regens - zwei Millionen Marschierer gezählt haben. Spötter veranlaßte die Teilnehmerinflation zu dem sinnigen Wortspiel, die Algerier seien nach langen Jahren der „auto-censure“, der Selbstzensur, nun zur „auto -encensure“, zur Selbstbeweihräucherung übergegangen.

Der Marsch, an dem sich überraschend viele Frauen beteiligten, stand unter dem Motto: „Für ein freies und demokratisches Algerien“ und war vor allem gegen den anwachsenden islamischen Fundamentalismus gerichtet. Vier Parteien der Linken und der Mitte - darunter Kommunisten, Sozialdemokraten und Berberautonomisten - sowie zahlreiche Einzelverbände hatten zu der Kundgebung aufgerufen. Die Demonstranten skandierten auf arabisch, französisch und kabylisch Parolen wie „Wir wollen die Demokratie!“ und „Freiheit, Gleichheit, Arbeit“. Einige von ihnen trugen Bilder des Expräsidenten Ben Bella mit sich und forderten seine Rückkehr aus dem Exil.

Schon vor einiger Zeit und offenbar mit Blick auf die algerischen Gemeinde- und Provinzwahlen Mitte Juni hatte der 1965 gestürzte Exstaatschef Ben Bella erklärt, er wolle in seine nordafrikanische Heimat zurückkehren. Der Expräsident, der bis 1980 in Haft war, lebt gegenwärtig im Schweizer Exil.

In einem unlängst veröffentlichten Interview zeichnete der 74jährige Exilpolitiker ein düsteres Panorama des Maghrebstaates. Die Wirtschaft des Landes stehe „vor dem Zusammenbruch, und das Gespenst des Bürgerkrieges“ gehe um, meinte Ben Bella. Wenn Staatspräsident Schadli Ben Dschadid nicht bald zurücktrete, laufe er Gefahr, „wie Ceausescu“ zu enden. Er selbst indes, stellte der greise Expräsident klar, wolle, sollte man ihn rufen, die Regierungsverantwortung jedoch „höchstens für ein Jahr“ übernehmen. Der einstige Marxist Ben Bella vertritt heute - quasi als Zeichen seiner Wandlungsfähigkeit - eine stark islamisch geprägte Politik. „Ich bin nie Atheist gewesen, und auch der algerische Sozialismus war im Islam verwurzelt. Denn Islam bedeute vor allem: Toleranz.“

Ob sich aber mit bloßer Toleranz das außerordentliche Bevölkerungswachstum bremsen, die horrenden Auslandsschulden senken und die leeren Staatskassen füllen lassen, mag dahingestellt bleiben. Weit wahrscheinlicher als bedingungsloser Glaube an ein „islamisches Sachprogramm“ zur Verbesserung der Lebensbedingungen des 25-Millionen-Volkes ist aber, daß der clevere Exstaatschef auf den hohen, prognostizierten Stimmenanteil der fundamentalistischen „Front islamique du Salut“ (FSI) schielt. Die „Islamische Heilsfront“ mit ihren beinahe 600.000 eingeschriebenen Mitgliedern könnte nämlich bei den Wahlen, so glauben Beobachter, mindestens 30 Prozent aller Stimmen, wenn nicht gar eine absolute Mehrheit einfahren. Vor allem die zahlreichen Frauen, die am „Demokratiemarsch“ teilnahmen, zeigten sich besorgt ob solcher Aussichten.

wasa