: Durch die Wüste
■ Herbert Wernicke inszeniert Schönbergs „Moses und Aaron“ in Frankfurt
Die Oper Moses und Aaron ist unvollendet geblieben, und doch wirkt sie nicht wie ein Torso. Ihr Text, vom Komponisten selbst nach dem 2.Buch Moses eingerichtet, entstand in der endgültigen Gestalt erst mit der Partitur zwischen 1930 und 1932 in Berlin. Je deutlicher die Bedrohung der Juden und des Judentums Gestalt annahm, desto offener bekannte sich Arnold Schönerg (wieder) zum Glauben der Väter - kompromißlos und schroff auch in der künstlerischen Produktion. Für die Bühne gestaltete er die Berufung des Moses, seine Begegnung mit Aaron in der Wüste (der sein Sprecher werden sollte), die Verkündung der monotheistischen Lehre, das Warten am Berg Sinai, der Tanz und die Auseinandersetzung um das „Goldene Kalb“, den Konflikt um den rechten Weg des Glaubens.
Wie der Mann Moses, der das gelobte Land nicht erreichen durfte, so kam auch Schönberg nicht zum Abschluß dieses Hauptwerkes. Der dritte Akt, „Aarons Tod“, wurde vor der Flucht des Komponisten aus Deutschland nicht mehr ausgearbeitet. In Paris wandte sich Schönberg den praktischen Fragen des jüdischen Widerstands zu, erwog, eine Sammlungsbewegung zu organisieren; im amerikanischen Exil kamen neue Aufgaben auf ihn zu. Erst gegen Ende seines Lebens sprach er davon, die Oper doch noch fertigstellen zu wollen.
Im Hintergrund des Konzertsaals „Alte Oper“ in Frankfurt wurde eine Hauswand errichtet, an diese der Hinweis auf den fragmentarischen Charakter der Oper gepinselt: „1. und 2.Akt (3.Akt fehlt noch).“ Die Klammer aber ist durchgestrichen. Das heißt: der Regisseur Herbert Wernicke vermißt den Schlußakt und kommt doch ganz notwendig ohne ihn aus - beläßt es beim „offenen Schluß“. Daß es unvollendet blieb und doch als ein ungeheures Ganzes wirkt, liegt am Stoff. In dessen Zentrum: die Offenbarung des einen, unsichtbaren, allgegenwärtigen, ewigen und unvorstellbaren Gottes durch Moses an sein auserwähltes Volk der Juden. Das Musiktheater, das traditonell Handlung sichtbar machte und Bilder zur Musik setzte, befaßt sich hier mit dem alttestementarischen Bilderverbot: „Du sollst dir kein Bildnis machen...“
Wernicke, der Bühnenbildner und Regisseur, ließ aus der Wohnblock-Wand einen Steg über das Orchester hinweg bis in die Sitzreihen des Publikums bauen. Ein Zickzack-Weg, wie der des historischen Moses. In helles Licht getaucht mutet er an wie ein „liegender Blitz“: als Straße der schreckhaften Erleuchtung, die jäh vor den Zuschauern abbricht. Die Rückwand mit den genormten Fensterhöhlen beherbergt die Choristen. Sie ziehen sich wie für ein Mysterienspiel zu Beginn der Vorstellung Masken auf, bleiben vom Hintergrund aus Beobachter und Statisten beim Akt der Religionsgründung. Eine Zeitlang tragen sie Gummihandschuhe (als wollten sie nicht infiziert werden); einmal stellt einer eine Kerze in seine schwarze Fensteröffnung, wie man es einst für die von allen guten Göttern verlassenen Brüdern und Schwestern im Osten tat.
Aus dem Auftrittsloch arbeitet sich der Sprecher Gerhard Faulstich vorwärts auf dem leuchtenden Pfad: legt die Schuhe und den Hirtenstab ab (der sieht freilich eher wie ein Spaten aus). In Frankfurt erreicht diesen Moses die göttliche Herausforderung durch die Stimmen der Knaben, die sich um einen Bücherberg scharen. Später wird dieser Bibelhügel dem Propheten als Rückzugsort für die Meditation dienen. Aaron kommt, der dicke Tenor William Cochran, der den Frankfurtern schon als Siegfried zugemutet wurde. Bei Schönberg reden sie gleichzeitig aufeinander ein, aneinander vorbei; bei Wernicke scheinen sich ihre Fragen und Statements kaum aufeinander zu beziehen - sie gehen in verschiedene Richtungen, obwohl sie doch ein Stück gemeinsamen Wegs vor sich haben.
Herbert Wernicke zeigt heutige Menschen in Straßenanzügen mit Krawatten oder im schwarzen Kleid: heutige Menschen mit Missionsdrang, mit ihren Anfechtungen, alleingelassen in ihren Auseinandersetzungen. Die Bibel, die Moses aufhebt und vorzeigt, ist leer: weiße Seiten.
Das ist der einzige witzige und frappierend erkenntnisreiche Moment in der sonst so gestrengen Inszenierung: Mit stoischer Ruhe liest Moses im Buch, in dem nichts steht, während sich das Chorvolk an der Idee der Flucht in die Wüste berauscht und die Priester drohend fragen: „Wovon soll euch die Wüste nähren?“ Moses rezitiert aus seinem Buch: „In der Wüste wird euch die Reinheit des Denkens nähren, erhalten und entwickeln.“ Dieser dem Moses in den Mund geschobene Satz könnte als Motto über Schönbergs Werk stehen - und auch über Wernickes Inszenierung. Die verzichtet auf alles, was selbst Schönberg noch für visualisierbar hielt: die Wüste und den Berg Sinai, den Tanz der nackten Jungfrauen und der Schlächter, die Orgien der Trunkenheit, des Tanzes, der Erotik, des Blutrausches; es gibt keine Pferde, keine Kamele, keinen Wein - in Strömen schon gar nicht. Zur Kalbsszene setzen sich alle eine Kalbskopfmaske auf.
Es bleibt bei einem Theater der Kargheit, der Annäherung an ein Hörstück. Wernickes Moses und Aaron überspielt die Tatsache nicht, daß Schönbergs Werk halb Oratorium ist. Zum anderen Teil aber ist es Oper: und es lebt von diesem Kontrast. Weil ja Handlung zur Musik stattfindet (und in der Frankfurter Alten Oper unter so ungünstigen räumlichen Bedingungen), erleidet die Musik, auf die bei einer oratorischen Aufführung alle Aufmerksamkeit gerichtet wäre, Einbußen - ganz zwangsläufig. Eine konzertante Aufführung wäre (wenn man die Idee Wernickes konsequent durchgeführt hätte) plausibler gewesen - auch bei ihr könnten die Choristen ja als Masken erscheinen und Moses könnte aus einem leeren Buch singen.
Frieder Reininghaus
Arnold Schönberg: Moses und Aaron, Inszenierung: Herbert Wernicke, Musikalische Leitung: Gary Bertini, mit Gerhard Faulstich und William Cochran. Die letzten Aufführungstermine: Sonntag, 20. Mai und Sonntag, 27. Mai.
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