piwik no script img

Gehirnzellen aus der Petrischale

US-Wissenschaftler züchteten „wider alle Erwartung“ Nervenzellen der Großhirnrinden / „Wenn man sie unter dem Mikroskop anschaut, scheinen sie kleine Gehirne zu bilden“ / Nun sind sie kaum mehr zu bremsen / Die Gentechnologen wollen beliebige Gene hinzufügen  ■  Von Silvia Sanides

Die graue Substanz, die den Mensch zum Menschen macht, bedarf des menschlichen Schädels nicht mehr. Amerikanischen Wissenschaftlern an der Johns-Hopkins-Universität ist es gelungen, Nervenzellen der Großhirnrinde zu isolieren und im Labor zu vermehren. In der Großhirnrinde liegen jene Zentren, die für die menschliche Ratio, Genialität und das Seelenleben verantwortlich sind. Neurone, so die wissenschaftliche Bezeichnung der Zellen, haben sich im Gegensatz zu den Zellen anderer Gewebearten bisher nicht im Labor kultivieren lassen. Im Gegensatz zu Leber-, Nieren und Hautzellen beispielsweise sind Neurone zur Zeit der Geburt bereits fertig ausgebildet. Andere Zellarten können zeitlebens in ein Jugendstadium übergehen und sich, zum Beispiel bei der Wundschließung, vermehren.

„Zellen des Gehirns und des Rückenmarks“, erläutert Versuchsleiter Solomon Snyder, „teilen sich nach der Geburt nicht mehr. Aus diesem Grund heilt eine Schußverletzung im Gehirn nicht, und deshalb sitzt Attentatopfer George Wallace noch immer im Rollstuhl.“ Snyder und sein Team entnahmen die jetzt erfolgreich gezüchteten Neurone dem Gehirn eines 18 Monate alten Mädchens, das an einseitiger Megalenzephalie litt. Bei der sehr selten auftretenden Krankheit schwillt eine der Gehirnhälften krankhaft an. Die Patienten leiden unter konstanten Anfällen, die nur durch die Entfernung der wuchernden Gehirnpartie gemildert werden können. „Wider aller Erwartung“, so Snyder, „es widersprach dem Katechismus aller Gehirnforschung der vergangenen fünfzig Jahre, fanden wir das richtige Cocktail von Hormonen und Nährstoffen, das die Zellen am Leben erhielt und zum Teilen veranlaßte.“ Über drei Jahre hinweg ernährte, färbte und testete das Forscherteam die Kulturen, um sicherzugehen, daß tatsächlich gesunde, erwachsene Neurone vorlagen. Jetzt ist Snyder zufrieden: „Wenn man sie unter dem Mikroskop anschaut, scheinen sie kleine Gehirne zu bilden.“

Und was soll mit den Gehirnen in der Petrischale geschehen? Zunächst wollen die Forscher mehr über die Funktion dieser Zellen und der Großhirnrinde erfahren. Außerdem soll das Hirngewebe die Erforschung neuer Arzneimittel erleichtern. Gewebekulturen verschiedener Organe dienen heute immer häufiger als Versuchsobjekt bei der Entwicklung neuer Medikamente. Tierversuchsgegner fordern, daß die Pharmaindustrie ihre Produkte künftig nur noch an Gewebeproben anstatt an Tieren testet.

In fernerer Zukunft wollen die Wissenschaftler die gezüchteten Neurone selbst für die Behandlung von Krankheiten, die durch den Abbau von Nervenzellen gekennzeichnet sind, einsetzen. Dazu gehört zum Beipiel die Alzheimersche Krankheit. Warum es bei dieser Krankheit zum Verfall der Hirnsubstanz kommt, ist allerdings noch völlig unklar.

Eine andere degenerative Nervenerkrankung, der Parkinsonismus, ist dagegen besser erforscht. Die typischen unkontrollierbaren Muskelspasmen der Patienten gehen auf einen Mangel der Substanz Dopamin zurück. Dopamin ist ein Botenstoff, der normalerweise von Neuronen ausgeschüttet wird. Nun haben die Mediziner in verschiedenen Versuchen Hirnzellen abgetriebener Föten in die Gehirne von Parkinsonismus-Patienten transplantiert. Die unentwickelten fötalen Neurone vermehren sich problemlos in der fremden Umgebung. Obwohl die Ergebnisse dieser Versuche keineswegs eindeutig sind, gibt es Anzeichen, daß die Behandlung die Krankheitssymptome mildert. Wahrscheinlich tragen die transplantierten Zellen zur Dopaminproduktion bei.

Doch die Erforschung dieser Therapie kollidierte schon früh mit der Abtreibungspolitik der Reagan- und Bush-Regierung. Gewebe von abgetriebenen Föten, so wollen es die gründlichen Abtreibungsgegner im Weißen Haus, dürfen nicht transplantiert werden. Womöglich würden sich Frauen sonst leichter für eine Abtreibung entscheiden. Folglich gibt es für diese Forschung keine Regierungsgelder mehr. Nun hoffen die Mediziner, daß sich der Erfolg des Johns-Hopkins-Teams wiederholen läßt. Dann wären sie zukünftig nicht mehr auf fötale Nervenzellen angewiesen.

In Pressegesprächen betonten alle Autoren der Studie, daß es im günstigsten Fall noch Jahre dauern werde, bevor dank ihrer Entdeckung tatsächlich neue Therapien aufkämen. Doch einen Blick in die Zukunft wagten sie trotzdem, und da fehlte auch die Gentechnologie nicht. Wenn sich die Neuronen schon munter im Kulturmedium vermehren, ist es theoretisch möglich, ihnen beliebige Gene einzusetzen, bevor sie dann an ihren Bestimmungsort in den Gehirnen der Patienten spediert werden. Die Johns-Hopkins-Forscher mußten feststellen, daß ihre Labor-Neuronen kein Dopamin herstellen. „Kein Problem“, meint Snyder, „das Gen für die Dopamin-Synthese ist bereits mit Erfolg in andere Zellarten gentechnisch eingepflanzt worden.“ Wurden die so behandelten Zellen in Ratten eingepflanzt, die unter Parkinsonismus litten, habe sich das Befinden der Tiere gebessert.

Eine großartige Zukunft erhoffen sich die Forscher also für ihre Reagenzglasgehirne. Zunächst müssen die Fachkollegen allerdings prüfen, ob sich der Erfolg des Johns-Hopkins -Teams wiederholen läßt. Erst dann können die Hirnforscher ihren Katechismus umschreiben. Sie täten gut daran, beim Werkeln mit dem, was den Mensch zum Menschen macht, mit dem Katechismus nicht gleich alle Religion zu vergessen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen