piwik no script img

Zehn plus eins gleich Öffentlichkeit

■ Über den Aufbruch der literarischen Avantgarde der DDR in die verlegerische Selbständigkeit

Berlin Ost/West. „Am 1.1.1991“, Sascha Anderson trinkt einen Schluck Kaffee und lehnt sich zurück, „wir arbeiten jetzt schon vor.“ Wenn Anderson von „Vorarbeiten“ spricht, dann meint er, daß in den vergangenen Wochen 120.000 DM aufgetrieben wurden, um damit im Westen einen kompletten Satz- und Druckbetrieb zu kaufen. Der wurde dann demontiert und wird zur Zeit in Berlin-Ost, Bezirk Prenzlauer Berg, in einer angemieteten Fabriketage, Lychener Straße 73, wieder in Betrieb genommen. Technologietransfer West-Ost? „Abgesehen davon, daß wir die Druckerei aufbauen, arbeiten die Redaktionen auch schon.“ Das Kind, das zum Jahresbeginn 91 das Licht eines womöglich vereinten Berlins erblicken soll, hat eine lange Vorgeschichte und einen Namen: „Druckhaus Galrev“ soll es heißen. „Galrev? - Na, umgekehrt wird ein Verlag daraus.“ Sprachspiegelung.

Blick zurück ins Jahr 1979, Schauplatz Kunsthochschule Dresden: Seit einiger Zeit tummeln sich im Dunstkreis avantgardistischer Maler und Grafiker junge Literaten, zumeist Lyriker, die der Kulturschock der drei Jahre zurückliegenden Biermann-Ausbürgerung nicht zum Schweigen, sondern zum Jetzt-erst-recht gebracht hat. 1979 meldet sich diese junge Autorengeneration (geboren zwischen 1950 und 1960) mit der Grafik-Lyrik-Mappe Kein Wind schlägt die Flügeltüren zu - noch recht brav - erstmals zu Wort. An ihr sind u.a. Lutz Rathenow, Helga Mauersberger, Bert Papenfuß und Sascha Anderson beteiligt. Letzterer bringt neben seinen Gedichten als gelernter Setzer und Drucker auch das technische Know -how mit, auf das in der anschließenden Welle selbstgemacher Maler-Dichter-Mappen, -Zeitschriften und -Bücher immer wieder zurückgegriffen wird. Ein Profil bildet sich heraus: Die Inhalte und Texte sind experimentell und sprachzersetzend, die Sprachbilder assoziativ und surreal. Ideen des Expressionismus und Surrealismus, des Dadaismus und Futurismus, des amerikanischen Beat und der Konkreten Poesie verschmelzen in den achtziger Jahren zusehends mit einer DDR-spezifischen Literaturavantgarde. Eine ganze Künstlergeneration, Lyriker und Maler, Musiker und Filmemacher, nimmt durch ihre Kunst Abschied vom Regelwerk der realsozialistischen Gesellschaft und ihrer Kulturdoktrin: der Ausstieg der in den DDR-Sozialismus Hineingeborenen (Gedichttitel von Uwe Kolbe). So entsteht fernab von offizieller Autorenförderung und Publikation durch volkseigene Verlage in Dresden die erste unabhängige Literaturzeitschrift 'Und‘. Einmal mehr hat neben anderen Sascha Anderson seine Finger im Spiel. Früh erhält er Hausverbot an der Kunsthochschule, später sitzt er eine zweijährige Gefängnisstrafe wegen Staatshetze ab, 1986 siedelt er nach West-Berlin über. Doch schon 1984 stellen Anderson und Freunde das Erscheinen von 'Und‘ ein und verlassen Dresden mit dem Ziel Prenzlauer Berg in Ost -Berlin, wo sich seit Anfang der achtziger Jahre parallel eine aktive Avantgarde- und Alternativkunstszene entwickelt hat. Dort am Prenzelberg heißt das seit 1981 von Uwe Kolbe, Bernd Wagner und Lothar Trolle herausgegebene Szenesprachrohr 'Der Kaiser ist nackt‘, von 1983 bis zu ihrer Einstellung 1987 dann 'Mikado‘. Die Liste der hierin schreibenden Autorinnen und Autoren liest sich wie ein Who is who der abseits offizieller Kultur munter ihr Unwesen treibenden Kunstszene: Neben Altstars wie Endler, Erb, Maron und Hilbig werden die Akzente jetzt von den jungen Experimentellen wie Papenfuß, Rathenow, Faktor, Döring, Opitz, Rosenlöcher etc. gesetzt. Rainer Schedlinski trägt als Herausgeber der essayistischen Zeitschrift 'Ariadnefabrik‘ maßgeblich zur theoretischen Diskussion bei. Vereinzelt erscheinen Anthologien und Textsammlungen im Westen. Doch seit Ende der achtziger Jahre wagen sich auch einige volkseigene DDR-Verlage an die neue, systemfremde Avantgardeliteratur aus dem Untergrund ihres Landes. Hauptmedium aber bleiben die illegalen Grafik-Lyrik -Zeitschriften, von denen zuletzt zehn bis zwanzig mehr oder weniger regelmäßig erscheinen. Die DDR-Macht drückt beide graustarigen Augen zu und toleriert das Treiben. Eine Zerschlagung hätte unkalkulierbare Folgen. Da die technischen Mittel beschränkt sind, entstehen ohnehin „nur“ Kleinstauflagen; bei privaten Lesungen und Wohnzimmer -Performances sind häufig sogar Unikate, die sich einer Reproduzierbarkeit sperren, das Ergebnis. Mit Packpapier oder Karton eingebunden, mit Bindfaden gehalten, mit Matrizentechnik vervielfältigt, mit Originalgrafiken und Fotografien kombiniert, wechseln sie ihren Besitzer, indem sie von Hand zu Hand gereicht werden. Anderson: „Der Ansatz war ein kommunikativer. Die Zeitschriften hatten bei zehn Autoren elf Exemplare, und damit war Öffentlichkeit gegeben. Jeder Autor hat eins gekriegt, und eins ging an die Öffentlichkeit. Das war das Prinzip.“

Die Vorgeschichte ist im Heute angekommen - 1990: Das Prinzip wird umgekehrt, und umgekehrt wird ein Verlag daraus. „Es wäre eigenartig gewesen, wenn diese Zeitschriften von Anfang an tausend Exemplare gehabt hätten. Die können sie erst haben, wenn es eine lange Zeit der Verständigung gibt.“ (Anderson). Aus dem dämmrigen Halbdunkel der Kleinstöffentlichkeit, aus der Konzentration auf Kommunikation treten die modernen Lyriker und Grafiker jetzt heraus, gründen einen Verlag, suchen die Öffentlichkeit. „Die Autoren, die sich in den letzten Jahren nie als Herausgeber profiliert haben, sondern in der Not standen, auch Herausgeber zu sein, die schließen sich jetzt als Redaktion in dem Verlag zusammen. Hier ist ein gewachsener Hintergrund des Widerstandes, der dann zwingend zu diesem Modell kam.“ (Anderson). Als finanzielles Standbein für das Druckhaus Galrev fungiert der nach westlichem Vorbild konsequent marktwirtschaftlich ausgerichtete Satz- und Druckbetrieb, der nicht zuletzt durch Fremdaufträge das Geld reinbringen soll. Wirtschaftliche Organisationsformen müssen en detail noch erarbeitet werden, doch spricht alles dafür, daß demnächst ein „GmbH“ hinterm Namen steht. „Bei uns wird es gar keine Demokratie geben. Kompetenzen sind völlig getrennt. Wir versuchen gar nicht, so ein demokratisches Modell zu machen. Wenn wir demokratisch anfangen, dann hat jeder Gesellschafter einen Tausender reinzulegen, und das muß sich dann wieder vervielfachen. Dieses ganze Prinzip der Selbsthilfegruppen basiert ja auch nur darauf, aus Geld Geld zu machen.“ (Anderson). Künstlerisches Tanzbein von Galrev bilden sechs Redaktionen. In der Redaktion für Essayistik wird Rainer Schedlinski seine 'Ariadnefabrik‘ auf eine Auflage von 1.000 Exmeplaren hochschrauben. Ein Sampler von alten Ausgaben ist in Vorbereitung. Eine etwa 300 Seiten starke Quartalszeitschrift rein literarischen Zuschnitts wird den vielsagenden Titel 'Sie will kein Kind, doch er will sein wie Godot‘ (!?) tragen. Eine Redaktion für Interdisziplinäres wird medienübergreifende Projekte betreuen, das Ressort für Übersetzungen wird ausländische Einflüsse aufgreifen. Hendrik Gehrike, bisher Herausgeber der Zeitschrift 'Braegen‘, wird Redakteur für junge Literatur, Bert Papenfuß und Sascha Anderson mischen in der Redaktion Lyrik, Prosa, Dramatik mit. Michael Tullin (bisher 'Liane‘), Egmont Hesse ('Schaden‘, 'Verwendung‘) und Jörg Wähner beziehen Posten im Druckhaus Galrev. Das Buchprogramm der ersten zwei Jahre steht: Papenfuß, Döring, Koziol, Erb, Neumann u.a.; Anderson bereitet eine originalgrafische Reihe mit Penck und eine Gedichtsammlung mit Texten von Kling, Falkner, Papenfuß, Döring, Waterhouse und ihm selbst vor. Soviel Wirbel der organisatorische Aufbruch in die verlegerische Selbständigkeit, die Marschrichtung Öffentlichkeit nicht nur in der Szene verursachen wird, künstlerisch bleibt alles beim neuen: moderne und avantgardistische Texte und Grafiken. „Wir haben zehn Jahre so gearbeitet. Warum sollen wir das plötzlich verlassen, nur weil neue Zeiten anbrechen? Die Leute sind aneinander gewöhnt, die sind miteinander aufgewachsen. Es brechen keine so großen neuen Zeiten an, daß wir es nötig hätten, uns zu trennen. Im Gegenteil.“ (Anderson).

Jürgen Deppe

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen