: Ignorant in die Welt gezwungen
Seelische Verkrüppelungen unerwünschter Kinder spielten in der hiesigen Rechtssprechung zum §218 keine Rolle / Eine staatliche Abtreibungspolitik, die das psychische Leid dieser Kinder und ihrer Mütter in Kauf nimmt, könnte bald auch „drüben“ gelten ■ Von Gerhard Amendt
I.
Kinder, die offen oder verdeckt abgelehnt werden, leiden an der gefühlsmäßigen Zurückweisung ihrer Eltern. Es bilden sich Symptome, die bereits bei der Geburt sichtbar werden und die Kindheit hindurch bis ins reife Erwachsenenalter als empirisch faßbare Nachwehen begleiten. Verantwortlich für die frühen Symptome ist meist eine grundsätzliche Störung der Mutter-Kind-Beziehung. Die Unerwünschtheit eines Kindes schränkt in leidvoller Weise alle seine Lebenssituationen ein und erschwert seine Entwicklung.
Ein Drittel bis zur Hälfte aller Kinder kommen unerwünscht zur Welt, so die Schätzungen. Da für Kinder nichts schlimmer ist, als die fehlende (meist ist es die mütterliche) Zuneigung in den ersten Lebensphasen, wurde die Unerwünschtheit zum Tabu, über das nicht geredet werden kann. Nicht nur weil es so viele trifft, sondern weil die Aufdeckung der eigenen Unerwünschtheit selbst noch die Erwachsenen schmerzlich berührt. Vor allem aber, weil damit die gesellschaftlich geförderte Idealisierung der Mütter und der Familie als Hort des Friedens und der Kinderfreundlichkeit gefährdet wäre.
Die Auswirkungen der elterlichen Gefühlsabkehr treffen in erster Linie die Kinder. Besonders fällt dabei auf, daß die kindlichen Störungen innerhalb der Familie zu Kettenreaktionen führen, die keinen unberührt lassen - auch den Vater nicht, selbst wenn er sich gefühlsmäßig von der Mutter-Kind-Beziehung fernhält. Die „Familie mit dem unerwünschten Kind“ ist eine tragische Einheit, die unter dem Druck des Kindestötungsverbots Mechanismen entwickelt hat, wie sie das Kind aufziehen kann, ohne vor dem Gesetz strafbar und vor dem eigenen Gewissen allzu schuldig zu werden. Dieser Verarbeitungsmechanismus ist für alle Beteiligten äußerst qualvoll und schließt in jedem Fall „Kindglück“ aus. An zwei eindrucksvollen Kettenreaktionen will ich die Struktur darstellen, die eine weitgehend gelingende Entwicklung des Kindes verstellt. Beim ersten Beispiel fällt die Identifizierung leicht, beim zweiten hingegen nicht.
Es ist eine empirisch gesicherte Kenntnis, daß unerwünschte Kinder häufiger Opfer elterlicher Gewalt werden als unerwünschte. Die familiäre Kettenreaktion ist hier besonders dramatisch. So wurde einer Mutter in einer Studie mit folgenden Worten zitiert: „Seit der Geburt wußte mein Kind, was ich ihm angetan habe. Wirklich, ich glaube, es ist irgendwie geschädigt worden. Jedenfalls lehnte mein Kind mich von Anfang an ab, das heißt, es verweigerte, die Brust anzunehmen, zu essen oder auf meine Bemühungen einzugehen.“
Diese Mutter kann bereits nicht mehr erkennen, daß das, was sie beim Kind an Motiven zu erkennen glaubt, ihre eigenen Phantasien sind. Sie verkennt die kindliche Realität und deutet das Schreien und die Nahrungsverweigerung wie viele Eltern in ähnlicher Situation als Zurückweisung und absichtliche Bestrafung für die fehlgeschlagenen Abtreibungswünsche, sowie ihre feindseligen Gefühle gegenüber der aufgezwungenen Schwangerschaft und dem Kind. Sie phantasiert, daß das Kind sie bei einer „unmütterlichen“ Einstellung ertappt habe und durch Schreien sich jetzt rächen will. Sie gerät mit dem Kind in einen Clinch und wehrt sich gegen dessen vermeintlich strafendes Schreien. Mit dieser Konstellation beginnt das bekannte „Crying Child Syndrom“. Hört das Kind auf zu schreien, so erlebt das die Mutter als Ende der „Strafaktion“, schreit es neuerlich, so wähnt sie sich wieder bestraft. In diesem werden die Säuglinge dann mit Gewaltmitteln „ruhiggestellt“. In einer ständig eskalierenden Spirale wird das Kind dann geschlagen und gelegentlich sogar erschlagen. Aber trotzdem ist die elterliche Gewalttätigkeit ebenfalls keine vorsätzliche Rachehandlungen, sondern Ausdruck der tragischen Verstrickungen, in die Mütter geraten, die aus der gefühlsmäßigen Ablehnung des Kindes in einer Gesellchaft voller Mütteridealisierungen und eigener Ansprüche an mütterliche Idealität keinen Ausweg finden.
Ein weiteres Beispiel gefühlsmäßiger Unerwünschtheit, führt zu einer Kettenreaktion anderer Art. Ihr Ergebnis ist nicht manifeste Gewalt, sondern das scheinbare Gegenteil. Es ist die überfürsorgliche Mutter im „Overprotection Syndrome“, die ein Verhalten zeigt, das nicht selten der idealisierten grenzenlosen mütterlichen Güte gleichgesetzt wird. Die überfürsorgliche Mutter versorgt das Kind nach allen Regeln der mütterlichen Kunst, aber sie raubt ihm zugleich innerlich die Luft, die zum Erwachsenwerden vonnöten ist. Dahinter verbirgt sich ebenfalls ein nagendes, jedoch unbewußtes Schuldgefühl über den Abtreibungswunsch, der wie in vielen Studien dargelegt - am geltenden Strafrecht scheiterte. Die Überfürsorglichkeit gilt nicht dem Kind, sondern der Beschwichtigung der elterlichen Schuld- und Schamgefühle über den Abtreibungswunsch und die feindseligen Gefühle gegenüber dem Kind. Kinder können der Überfürsorglichkeit nicht entkommen, weil Mutter und Vater dies zur Linderung ihrer eigenen verdeckten Gewissensqualen brauchen.
Die destruktive Überfürsorge läßt sich im Alltag daran erkennen, daß ärztliche oder psychologische Hilfe für das Kind nicht in Anspruch genommen wird. Die Mutter, der nichts zuviel für ihr Kind ist, glaubt, daß allein ihre Liebe es heilen kann. Heimlich fürchtet sie auch, die Erkrankung des Kindes könne Fremden etwas von ihrer tiefliegenden Ablehnung enthüllen. Sie erzeugt Leid, weil sie meist aus gesellschaftlichen Zwängen nicht zu ihren feindseligen Gefühlen gegenüber dem Kind stehen darf oder glaubt, nicht stehen zu dürfen. Sie wird zum Opfer der Selbst- und Fremdidealisierung.
Dramatisch werden die Reaktionsketten verschärft, wenn die Eltern das unerwünschte Kind zusätzlich für materielle Probleme „verantwortlich“ machen, die seit der Geburt des Kindes eingetreten sind.
Die reichhaltigen Forschungsergebnisse zu den Folgen der elterlichen Ablehnung führen vor Augen, daß die Verletzungen des Kindes schon während der Schwangerschaft einsetzen, wenn die Frau merkt, daß sie diese Schwangerschaft nicht will. Das führt zu einer Schwangerschaft mit Problemen. Aus Abneigung gegen ein unerwünschtes Kind oder die aufgezwungene Elternschaft unterlassen es Frauen ganz oder teilweise an medizinischen Vorsorgeuntersuchungen teilzunehmen. Sie verzichten ebenfalls auf eine der Schwangerschaft angemessene Lebensweise. Nicht selten trinken und rauchen sie in einem Ausmaß, das den Fötus schädigt. Eine unmittelbare Folge sind Geburten, die problematisch verlaufen, und Säuglinge die bereits mit psychosomtischen Krankheitssymptomen geboren werden. Hierzu zählen zum Beispiel das Überaktivitäts-/Apathiesyndrom und Hautempfindlichkeiten und -erkrankungen. Unerwünschte Kinder zeigen bereits während der Schwangerschaft Überaktivität, die nach der Geburt fortdauert. Es können Magen -Darmstörungen, gestörter Stuhl, Überempfindlichkeit auf Geräusche und verringerter Schlaf auftreten. Tritt die emotionale Ablehnung der Eltern nicht in verdeckter, sondern offener bewußter Form auf, so verzichten sie auf die Konsultation von Ärzten. Das Kind wird früh vernachlässigt. Konsequenterweise sind unerwünschte Kinder unter den gestorbenen Säuglingen häufiger als erwünschte aufzufinden. Im Bereich „plötzlicher Kindestod“, für den es keine organmedizinische Erklärungen gibt, ist die Unerwünschtheit verstorbener Kinder ebenfalls aufgefallen.
Die Langzeitwirkungen der emotionalen Ablehnung wurden ebenfalls untersucht. Diese Kinder zeigen Anpassungsschwierigkeiten in der Schule, Probleme im Spracherwerb, und sie gelten eher als „Außenseiter“ und „Feiglinge“. II.
Die beispielhaft dargestellten vielfältigen Schädigungen zeigen, so glaube ich, eine am Kindeswohl orientierte Gesellschaftspolitik die Begründungen des Strafrechts zur Abtreibung ernsthaft überdenken sollte. Die konservative Position der Abtreibungsgegner geht traditionell von einer Unvereinbarkeit weiblicher Autonomierechte und kindlicher Schutzbedürfnisse aus. Deshalb wurden psychische und somatische Schädigungen vernachlässigt, die durch Abtreibungsverbote oder Zwangsberatung für Kinder entstehen. Diese Dimension hat auch die §218-Bewegung nicht deutlich genug gesehen. Im Bundesverfassungsgerichtsurteil zur Abtreibung von 1975 gibt es sowohl im Mehrheiten- und Minderheitenvotum keinen Hinweis auf jene Leiden, die für Kinder und Partnerschaften aus unerwünschten Schwangerschaften entstehen.
Nach dem Stand der Forschung, zu dem die Bundesrepublik seit ihrem Bestehen nichts Wesentliches beigesteuert hat, kann sie unstreitig gelten, daß die psychischen Leiden unerwünscht geborener Kinder vielfältig, zerstörerisch und vor allem lebenslang wirken. Damit wird aber ein Perspektivenwechsel in der Diskussion über die Abtreibung zwingend erforderlich, der auf die bislang verdrängten und unterschlagenen Argumente der Gefährdung von unerwünschen Kindern zugreift. Diese völlig neue Perspektive, die sich hier auftut, gibt die prinzipielle Distanz zu kindlichen Lebensinteressen und familienähnlichen oder familiären Beziehungsstrukturen, die bislang vorherrschten, an. Vor diesen Erkenntnissen hat auch das Bundesverfassungsgerichtsurteil keinen substantiellen Bestand mehr.
Die Abtreibungsdebatte könnte an Bedeutung gewinnen, wenn der Autonomieanspruch der Frauen an substantielle Erörterungen der Glücksunfähigkeit von unerwünschten Kindern gebunden wird. Die Voraussicht bezöge ihre Einsicht aus dem Rückblick auf nachgewiesene kindliche Beschädigungen. Solange die gefühlsmäßige Annahme der Kinder durch ihre Mütter in der frühen Phase der körperlich-psychischen Primärnähe nicht sicher ist, werden diese Kinder kein „Urvertrauen“ entwickeln können.
Politische und persönliche Positionen zur strafrechtlichen Handhabung der Abtreibung sollten zukünftig nicht mehr ohne eine Vereinbarkeitsprüfung mit Kindeswohlinteressen und Kinderschutz durchgehen. Ich glaube kaum, daß PolitikerInnen sich über kindliche Leidenszustände hinwegsetzen werden, die mit der Austragung von unerwünschten Schwangerschaften verbunden sind; seien diese Leiden bereits eingetreten oder durch die Forschung voraussagbar. Die neue Perspektive löst darüber hinaus die konservative Polarisierung auf, nach der es bei der Abtreibung um tötliche weibliche Selbstbestimmung gehe, anstatt um den „Lebensschutz“.
Eine erweiterte Sicht auf den Kinderschutz beschreibt die Lebenszerstörung von Kindern als Folge einer gesellschaftlich betriebenen Idealisierung von Müttern, nach der „Muttersein“ identisch mit grenzenloser Güte sei. Damit sollen Frauen in die Position der ewig Unvollständigen geraten. In der Selbst- und Fremdidealisierung des Mütterlichen kommt eine natürlich imaginierte Moralität zum Ausdruck, die bislang öffentlich nicht angerührt wurde. In ewigen Schuldgefühlen und Selbstzweifeln an einer Weiblichkeit, die zur Mütterlichkeit schrumpfte, und die auf der Suche nach der unendlichen Güte ins Leere treibt, werden Frauen systematisch überfordert. Die Verarbeitung dieses Anspruchs erfolgt weitgehend depressiv. Politisch und psychisch befreiend kann eine Diskussion nur sein, wenn die Idealisierung der Mutter als eine tief verwurzelte gesellschaftliche Illusionsbildung beendet wird. Ich verbinde damit die wirkungsvolle Perspektive des Schutzes des zu gebärenden und bereits geborenen Lebens. III.
Sollte es den Abtreibungsgegner gelingen, der DDR den §218 im Gegenzug für die ersehnte D-Mark aufzuzwingen, dann bedeutet dies einen Verlust an Freiheiten, den die realsozialistische Politik den Frauen - unbesehen von staatlichen Motiven - gebracht hat. Dabei ergibt sich jenes Kuriosum, daß die staatlich legitimierte Zwangsberatung (§218b StGB), eine der wenigen „realsozialistischen Errungenschaften der Bundesrepublik“ der DDR „erhalten“ bleiben soll. Nämlich die Bevormundung der BürgerInnen durch einen Staat, der in der Abtreibungsfrage alles besser weiß, weil er sich einer normativ gewendeten Biologie bedient, um persönliche Freiheiten von Frauen zu beschneiden. Die Analogie zur „realsozialistischen Bevormundung“ der BürgerInnen vervollkommnet sich mit der Perspektive eines novellierten §218b, der BeraterInnen gesetzlich verpflichtet, Frauen ausnahmslos dazu zu „motivieren“, jede Schwangerschaft auszutragen.
Wenn die Regierungskoalition eine gesetzliche Fixierung der Zwangsberatung nach §218b StGB zur Austragung unerwünschter Schwangerschaften anstrebt, sollte sie sich darüber im klaren sein, daß unter dem Druck staatlicher Autorität und der weitverbreiteten Geltung des Marienideals viele Frauen in psychische Gewissensqualen geraten werden. Sie können die Kindesablehnung immer weniger offen äußern. Sie geben sie in untergründiger Feindseligkeit in der höchst zerstörerischen Liebesverweigerung wie unerträglichen Gefühlsschwankungen an ihre Kinder weiter.
Damit wäre die Zerstörung von „Urvertrauen“ zur Maxime einer konservativen Lebensschutzpolitik geworden und der Boden für vielfältige Störungen und Beeinträchtigungen in der Zukunft bereitet.
Gerhard Amendt ist Soziologe und Gruppenanalytiker. Er bildet Sozialpädagogen an der Universität Bremen aus. Das erste Beratungszentrum, in dem Schwangerschaftsabbrüche ambulant außerhalb des medizinischen Establishments vorgenommen werden - Pro Familia Bremen - wurde von ihm aufgebaut und 1979 eröffnet. Die heute arbeitenden Pro -Familia-Beratungszentren sind diesem Modell nachgebildet. Amendt war von 1976 bis 1984 Vorsitzender der Pro Familia Bremen.
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