: EIN ÜBUNGSATLAS F ÜR MACHTVERSCHIEBUNGEN
■ August Sanders Fotoserie „Antlitz der Zeit“ in der Galerie Bodo Niemann
Foto eins: Der Westerwalder Bauer sitzt in Weste, Anzug und Fliege im Lehnstuhl, er sitzt mit geradem Rücken, hält die Bibel in der einen, die Brille in der anderen Hand. Er sieht streng und ein wenig verunsichert in die Kamera. Foto zwei: Die Bäuerin aus dem Westerwald sitzt in dem gleichen Lehnstuhl, sie hat ihre Sonntagstracht und ein großes Tuch um den Kopf gelegt, auch sie ist fertig zur Messe, hält die beiden Daumen auf die Bibel gelegt. Sie blickt mit einem etwas erzwungenen Lächeln, aber weniger von dem Fotoauge beeindruckt, ihr Gegenüber an. Foto drei: Das Bauernpaar aus dem Westerwald ist tatsächlich vor einem Wald abgelichtet: der Mann sitzt im Freien auf einem Stuhl, sich leicht auf seinen Spazierstock stützend, die Frau steht neben ihm, die Hände vor dem Rock ineinander gelegt. Und wieder spricht ein gewisses Mißtrauen aus ihren Gesichtern, und doch überrascht die offen gezeigte Verbitterung, die der Mann mit seinen nach unten gebogenen, zusammengepreßten Lippen und seinen harten Augen nicht hinter einer neutralen Fotomaske zu verbergen sucht. Foto vier: Die Bauerngeneration, ebenfalls vor der Waldkulisse aufgenommen, zeigt drei Generationen im Halbrund vereint; die Gesichter der Kinder sind nicht weniger als die der Erwachsenen bereits von Sorge und Angst geprägt.
August Sander, der 1912/13 diese Fotografien aufnahm, verstand sie als Teil einer unter dem Titel Menschen des 20. Jahrhunderts geplanten Porträtsammlung deutscher Menschen, die er in 45 Mappen zu je 12 Fotografien, in 7 Gruppen nach Ständen gegliedert, anlegen wollte. Die Bauernfotos wurden zusammen mit 56 weiteren 1929 als Buch herausgegeben, das als Antlitz der Zeit im Kurt-Wolff -Verlag in München erschien. Sander, der schon während seines Militärdienstes 1896 zu fotografieren begonnen hatte, war es in seinem großangelegten Projekt darum zu tun, „ein Zeitbild unserer Zeit zu geben“. Er wollte der Nachwelt die Wahrheit übermitteln, „sei es günstig oder ungünstig für uns. Wenn ich nun als gesunder Mensch so unbescheiden bin, die Dinge so zu sehen, wie sie sind, und nicht, wie sie sein sollen, so möge man mir dies verzeihen, aber ich kann nicht anders.“
Alfred Döblin, der die Veröffentlichung von Antlitz der Zeit ebenso begrüßte wie Walter Benjamin und Kurt Tucholsky, lobte denn auch im Vorwort, daß „dieser Fotograf vergleichende Fotografie getrieben und damit einen wissenschaftlichen Standpunkt oberhalb der Detailfotografie gewonnen“ hat. „Die Bilder sind ein blendendes Material für die Kultur-, Klassen und Wirtschaftsgeschichte der letzten dreißig Jahre.“
Um seine vergleichende Physiognomie anstellen zu können, hat Sander von der Arbeits- und Lebensform, die die „Stände“ doch charakterisieren müßte, abstrahiert. Wir wissen nur aus den Bildunterschriften, daß der eine ein Betriebsingenieur, der andere ein Maler, der dritte ein Kaufmann ist. Er zeigt die Bauern nicht bei der Arbeit, er hebt sie aus ihrem Lebenszusammenhang heraus, er setzt sie samt Sonntagsmontur in einen klassischen Porträtrahmen hinein. Was dabei sichtbar wird, ist vor allem die Zeichnung, die das Leben den Beobachteten in die Gesichter schreibt: die Härte der Arbeit, das Gleichförmige der Existenz, dazu aber auch die Würde, die ihnen die Anerkennung ihres Standes verleiht.
Döblin sieht hinter ihren harten Gesichtern bereits den Typus des neuen Bauern auftauchen, „wie sie unter neuen Verhältnissen sich ändern, wie der Reichtum, die leichtere Tätigkeit dann die Gesichter löst“. Der Herrenbauer von 1928 und seine Frau haben feiste Gesichter über einem beachtlichen Körperumfang, ihr Blick scheut nicht mehr vor dem unbekannten Medium zurück.
Döblin glaubt bei Sander eine Art Begriffsrealismus ausmachen zu können: Sander versuche herauszustellen, was gattungsmäßig, allgemein, substantiell an jeder Einzelperson sei.
Benjamin nennt das Fotobuch einen „Übungsatlas“, anhand dessen man die „Machtverschiebungen, wie sie bei uns fällig geworden sind, und die Ausbildung, Schärfung der physiognomischen Auffassung zur vitalen Notwendigkeit werden lassen“, ablesen kann: neben dem satten, selbstzufriedenen Bürger die Revolutionäre mit dem finsteren Blick, die Arbeiterräte mit den gerundeten Nacken, die abgerissene Boheme neben dem Pianisten mit Lackstiefeln, Melone und Stock. Benjamin hat nicht zu viel in diese Bilder hineingesehen. Die Nationalsozialisten lehnten das Porträtwerk als nicht erhaltenswert ab: „Das Werk ist Revolte und will offenbar auch Revolte sein. Deshalb ist es zugleich ein physiognomisches Dokument der Führerlosigkeit, ein Dokument der schlechten Instinkte und des Habenwollens mit allen Mitteln, kein Dokument des Aufschwungs, der Begeisterung oder gar des Seins.“
Es sind in der Tat keine zukunftsstrotzenden Muskelmänner, die Sander gefunden hat, keine Idealtypen nach arischem Muster, es sind individuell ausgeprägte Gesichter, wie sie sich aus der gesellschaftlichen Differenzierung der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg noch ergeben konnten und in einer solchen Variationsbreite heute nicht mehr zu finden sind. Den Kleinstadtbürger mit dem Schmerbauch und dem Buddhagehabe unter dem nickelbesetzten Glatzkopf kennen wir aus Otto Dix‘ Gemälden, vielleicht auch den Architekturprofessor Dr. P. mit dem leicht debilen Gesichtsausdruck unter dem Topfhaarschnitt. Die Gesichter des pockennarbigen Schankkellners, des in volle Fechtmontur drapierten Korpsstudenten, des gütigen Großkaufmanns sind aus dem physiognomischen Spektrum unserer Zeit ebenso verschwunden wie der kommunistische Führer-Typus, der Wachtmeister mit dem halben Meter Schnurrbart quer durchs Gesicht oder der katholische Geistliche, der wie Don Camillo aussieht.
„Der sieht aus wie“ möchte man angesichts dieser Fotografien andauernd sagen, so sehr hat Sander das Typische in der spezifischen Geste oder Pose zu erfassen versucht: der Tenor, der sich in tief emotionalem Ausdruck an den Pelzkragen greift, der Professor, der an der Uhrenkette nestelt, der Kunstgelehrte, der sanft seine Hand auf dem Oberschenkel ruhen läßt, der Großindustrielle, der seine nadelgestreiften Hosenbeine übereinanderfaltet, der Abgeordnete, der den Regenschirm mit der Spitze nach oben unter den Arm klemmt und sich in Melone und Pellerine gewollt forsch und weltmännisch präsentiert.
Roland Barthes würde sicherlich eher die Nebendetails beachtenswert gefunden und sich gewundert haben, daß der eine Jungbauer eine selbstgedrehte Zigarette zwischen den Lippen hält und der andere die Fingernägel der linken Hand zu einer lockeren Faust nach oben dreht, daß die beiden Bauernmädchen von 1928 auffallende Armbanduhren an den Handgelenken tragen und Kunstrosen an der weiten Hüftnaht des Kleids. Antlitz der Zeit: die 60 dazu gehörenden Fotos sind gegenwärtig zum ersten Mal vollständig in Berlin in der Galerie Bodo Niemann zu sehen. Die ausgestellten Arbeiten sind neue Abzüge von den Glasplatten und Negativen, die in einer limitierten Auflage von 30 Exemplaren abgezogen wurden und sich in Größe, Montierung und Präsentation völlig an Sanders Originalabzügen orientieren. Zudem werden 12 größerformatige Fotos aus dem Projekt Menschen des 20. Jahrhundert gezeigt. Darüber hinaus stellt die Galerie Sanders Künstlerfreunde aus Köln mit einzelnen Arbeiten vor, denen jeweils ein von Sander gefertigtes Porträt gegenübergestellt wird. Das vergriffene Buch Antlitz der Zeit wurde zur Begleitung der Ausstellung anstelle eines Katalogs neu aufgelegt. Die Ausstellung zu August Sander soll nur die erste in einer Reihe weiterer Fotoausstellungen in der Galerie Bodo Niemann sein.
Michaela Ott
August Sander: „Antlitz der Zeit“, bis 23. Juni in der Galerie Niemann, Knesebeckstr. 30, Di-Fr 12-18 Uhr, Sa 10-14 Uhr
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